Distributorenumfrage Halbleiterverknappung: Ursachen, Hintergründe, Lösungen
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Corona lockert seinen Klammergriff. Wirtschaft, Industrie und Handel wollen durchstarten. Doch jetzt bremst die Verknappung bei Vorprodukten wie Halbleiter weite Teile der Industrie aus. Was tun? ELEKTRONIKPRAXIS befragte namhafte Distributoren. Hier sind ihre Einschätzungen.

45 Prozent der im April vom Ifo Institut befragten Industriefirmen berichteten von Engpässen. „Besonders betroffen von der Materialknappheit sind die Hersteller von Gummi- und Kunststoffwaren mit 71,2 Prozent. Es folgen die Autohersteller und ihre Zulieferer mit 64,7 Prozent, die Produzenten von elektrischen Ausrüstungen mit 63,3 Prozent und die Computerhersteller mit 57,6 Prozent“, resümiert Dr. Klaus Wohlrabe, Stellvertretender Leiter des Ifo Zentrums für Makroökonomik.
Quer durch alle Branchen fehlen Halbleiter, und eine Entspannung der Situation ist nicht in Sicht. Was tun? Die ELEKTRONIKPRAXIS befragte die Distributoren. Als Mittler zwischen Hersteller und Kunde haben sie den bestmöglichen Überblick über die globale Situation auf dem Bauteilemarkt.
An der Umfrage beteiligten sich: Codico, Sven Krumpel, CEO; Conrad, Ralf Bühler, CEO; Digi-Key, David Stein, Vice President, Global Supplier Management; EBV Elektronik, Thomas Borgsdorf, Regional Vice President Sales Central Europe; Farnell, Lee Turner, Global Head of Semiconductors & SBC; Glyn, Thomas Gerhardt, Managing Director; Mouser, Mark Burr-Lonnon, Senior Vice President of Global Service & EMEA and APAC Business und Rutronik, Reza Armin Maghdounieh, Senior Manager Product Marketing Standard Products and Purchasing.
Die Verknappung bei Halbleitern hat verschiedene Ursachen
Der Halbleitermarkt ist aktuell in einer äußerst prekären Lage. „Es handelt sich um eine der größten Allokationen der vergangenen Jahre. Grundsätzlich ist fast jedes elektronische Produkt betroffen“, betont Ralf Bühler, Conrad. Und Sven Krumpel, Codico, ergänzt: „Es muss mit Schwierigkeiten in der gesamten Supply Chain – sowohl beim Transport als auch in der Verfügbarkeit – gerechnet werden.“ Auf eine Entspannung ist nicht vor 2022 zu hoffen.
„Die Marktnachfrage nach Halbleitern ist in den letzten fünf bis sieben Monaten geradezu explodiert. Zudem gibt es Lieferprobleme bei Rohstoffen wie Mangan und Antimon“, so David Stein, Digi-Key. Der Hauptgrund der Halbleiterverknappung, da sind sich alle Distributoren einig, ist die Corona-Krise – trotz Fertigungsausfällen etwa wegen Erdbeben, Winterstürmen und einer Havarie im Suezkanal.
So waren die ersten drei Quartale des Jahres 2020 von der Notwendigkeit geprägt, die medizinische Industrie in ihrem Kampf gegen Covid-19 zu unterstützen. Parallel dazu hat die Covid-19-Pandemie mit ihren Lockdowns und dem verstärkten Arbeiten im Home-Office „den Trend zur Massendigitalisierung in einer Weise beschleunigt, die den Halbleitermarkt grundlegend und dauerhaft verändert hat.
Plötzlich waren neue und profitablere Kunden und Märkte zu bedienen
Die Halbleiterhersteller hatten plötzlich neue und profitablere Kunden und Märkte zu bedienen. Dann, als sich die Welt an das `neue Normal´ gewöhnt hatte, kehrten die traditionellen Halbleiterkunden, die zunächst von der Pandemie betroffen waren, zum Betrieb zurück und bestellten daher Produkte, nur um festzustellen, dass diese nicht mehr verfügbar waren“, so Lee Turner, Farnell.
Verschärft werden die Engpässe insbesondere bei den Halbleitern durch die Entwicklungsaktivitäten in vertikalen Segmenten wie „Automotive, Consumer und 5G, die sich seit Mitte 2020 aufgestaut haben“, betont David Stein, Digi-Key. Und Reza Armin Maghdounieh, Rutronik, ergänzt: „Eine 5G-fähige Basisstation benötigt etwa viermal mehr Powerhalbleiter als eine 4G-Basisstation. Hinzu kommt, dass aufgrund der geringen Reichweite die Zahl der Basisstationen stetig deutlich steigt.“
Nicht nur äußere Einflüsse, auch unternehmensinterne Fehleinschätzungen
Doch es sind nicht nur äußere Einflüsse, sondern auch unternehmensinterne Fehleinschätzungen, die zur Halbleiterverknappung führten, gibt Mark Burr-Lonnon, Mouser, zu bedenken. „So hat etwa die Automobilindustrie während der Pandemie ihre Bestellungen für Halbleiterchips reduziert. Allerdings stieg die Nachfrage nach Autos bereits nach kurzer Zeit wieder an und die Autohersteller wurden mit wenigen fertig produzierten Autos und geringen Lagerbeständen an Bauteilen kalt erwischt.“
Thomas Borgsdorf, EBV Elektronik, fasst zusammen: „Alle Lager, sowohl von den Herstellern, den Distributoren, Zulieferern und auch Kunden sind leer. Gleiches gilt zudem für die Die-Banks, also die Lager für das Silizium-Rohmaterial bei den Herstellern, um Bedarfsspitzen puffern zu können.
Und Mark Burr-Lonnon, Mouser, ergänzt: Die Knappheit veranlasst Gesetzgeber dazu, ihre Regierungen aufzufordern, die Fertigungsindustrie zu subventionieren und anzukurbeln. Die größte Herausforderung im nächsten Jahrzehnt wird es sein, mit der Nachfrage Schritt zu halten, da das digitale Zeitalter alle Lebensbereiche durchdringen wird.“
Panikkäufe, nicht nur bei Halbleitern
Wie reagieren die Kunden auf die Verknappung? „Panisch!“, konstatieren Mark Burr-Lonnon, Mouser und Thomas Gerhardt, Glyn. „Die Auftragseingänge steigen um 80%, der Umsatz um 20% und das BIP um 5%“, so Thomas Gerhardt, Glyn.
Von exorbitanten Auftragseingängen von „fast 50 Prozent“ spricht auch der Fachverband der deutschen Bauelemente-Distribution (FBDi) in seinem Bericht für das 1. Quartal 2021: Die FBDi-Mitglieder verzeichneten im ersten Quartal 2021 ein exorbitantes „Plus von 48,8 Prozent bei den Auftragseingängen – nach einem Plus von 23 Prozent im Vorquartal“, so der FBDi-Vorstandsvorsitzende Georg Steinberger. Allerdings verzeichnete der FBDi für das erste Quartal 2021 auch einen „Rückgang der Umsätze von 6,1 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum“.
Kein Wunder, dass etliche Distributoren die Entwicklung kritisch sehen. Thomas Gerhardt, Glyn, spricht aus, was viele denken: „Da kann etwas nicht stimmen, das ist klar. Einer bestellt Produkte, die er noch gar nicht braucht. Ein anderer benötigt eines davon gerade dringend, findet es aber nicht mehr.
Deshalb bestellt auch er mehr als er jetzt benötigt. Es steigen die Preise und Lieferzeiten, weshalb nochmals nachgeordert wird. Nachfrage und Angebot sind aus dem Takt geraten.“ Hat sich die Lage dann wieder normalisiert, könnte abermals „Katerstimmmung aufziehen“, etwa wegen voller Läger, schwachen Auftragseingängen, fallenden Preisen und geringer Fabrikauslastungen.
Fast alle Bauelemente sind von der Verknappung betroffen
„Mittlerweile ist so gut wie jede Produktkategorie betroffen“, darin sind sich etwa Sven Krumpel, Codico, und Thomas Gerhardt, Glyn, einig. „Denn alles ist verzahnt und vernetzt. Thomas Borgsdorf, EBV, betont die Bedeutung der Halbleiter-Fabs: „Insbesondere betroffen sind Produkte der 8 Inch Fabs, die vielfach in der Industrie und Automotive zum Einsatz kommen.“
Und Lee Turner, Farnell, ergänzt: „Am stärksten betroffen sind High-End-Halbleiter, die traditionell von Foundries wie TSMC hergestellt werden und für den Einsatz in High-End-Produkten vorgesehen sind, wie 5G. Dort, wo Hersteller Fabs oder eine gemischte Produktion haben, sehen wir weniger Auswirkungen.“
David Stein, Digi-Key, konkretisiert auf Komponentenebene: „Zu den Komponenten, deren Beschaffung für Endkunden (OEMs und Auftragsfertiger) eine Herausforderung darstellt, zählen: Diskrete (Dioden, Gleichrichter, Mosfets, IGBTs), lineare analoge Komponenten, Mikrocontroller und Mikroprozessoren, Sensoren, Commodity- und High-End-Logik. Zudem beeinflusst die Verknappung auch elektronische Produkte, die besagte Komponenten verwenden. Zum Beispiel sind die Hersteller von Stromversorgungen ein Verbraucher von Halbleitern, um ihre Produkte herstellen zu können.“
Hinsichtlich der Produkte ergänzt Ralf Bühler, Conrad: „Wir können derzeit noch einen Großteil Produkte mit guter Verfügbarkeit anbieten, erste Herausforderungen haben wir im ICT-Umfeld.“ Und Reza Armin Maghdounieh, Rutronik, sieht Verknappungen bei „MCUs, diskreten Bauelementen, Sensoren, Mosfets und LEDs“.
Die Komponentenverknappung dauert bis 2022
Alle Distributoren rechnen mit einer Verknappung bei Halbleitern zumindest bis Ende des Jahres 2021, wahrscheinlich bis Mitte 2022. Denn so, Lee Turner, Farnell: „Die Erhöhung der Wafer-Herstellungskapazitäten kostet Zeit und Geld. Sie wird aber auch zu einer geografischen Ausbalancierung der Lieferkette beitragen.“ Denn die Corona-Pandemie hat die Schwäche offenbart, sich „auf eine sehr kleine Anzahl von Akteuren zu verlassen, um einen sehr großen Teil an Produkten zu produzieren“.
David Stein, Digi-Key, ergänzt: „Viele Zulieferer haben uns mitgeteilt, dass sie bis zum Ende des Jahres 2021 und bis ins Jahr 2022 ausgebucht sind. Einige Anbieter haben begonnen, ihre Produktionskapazitäten zu erhöhen. Viele haben jedoch keine zusätzlichen Kapazitäten geschaffen, sondern ihre Produkte auf ihren verschiedenen Produktionslinien verschoben, um die Nachfrage bestmöglich decken zu können.“
Wie die Distributoren der Verknappung entgegensteuern
Wie Conrad haben die Distributoren schon seit Beginn der Corona-Krise proaktiv gehandelt: Der Einkauf hat sich frühzeitig mit dem internationalen Lieferantennetzwerk darum gekümmert, die Warenverfügbarkeit für die Kunden sicherzustellen. Wichtig sei zudem, so EBV, der frühzeitige Aufbau von Läger für NPIs (New Product Introduction).
Auf Seiten der Lieferanten setzt nicht nur Digi-Key auf Transparenz und Langfristigkeit: „Wir haben Bestellungen für unsere Lieferantenbasis bis Ende 2021 geplant - um ihnen so viel Transparenz wie möglich zu geben, damit sie die von uns erwartete erhöhte Nachfrage bedienen können.“ Vorteile sehen High-Service-Distributoren wie Farnell: „Da High-Service-Distributoren viel geringere Volumina wie Broadline-Distributoren haben, können sie leichter auf Lagerhaltung setzen als Broadliner, die eher „Buy to Lead Time“ bevorzugen.
Generell setzten die Distributoren auch auf die Erweiterung ihres Portfolios. Mouser beispielsweise hat im Jahr 2020 seinem Portfolio „über 70 Hersteller von Halbleitern und elektronischen Bauteilen hinzugefügt und fast 5.000 neue Produkte erfolgreich auf dem globalen Markt eingeführt“. Zudem setzt Mouser auf das „Front-End-Bestandsmodell, bei dem wir den Vorteil und die Notwendigkeit sehen, Lagerbestände zu halten“.
Was Distributoren den Kunden raten, um Engpässen vorzubauen
Jetzt, in der Corona-Krise hören Kunden oft, wie hilfreich eine ausgeklügelte, große Lagerhaltung gewesen wäre. Demgegenüber steht in normalen Zeiten jedoch, so Thomas Gerhardt, Glyn, „wer zu viel Lager hat, ist im Wettbewerb oft nicht effizient genug.“ Hilfreicher sei es, da sind sich alle Distributoren einig, Loyalität und kooperatives Verhalten in ruhigen Zeiten aufzubauen. Man kämpfe in Krisen einfach lieber gemeinsam mit bzw. für einen auch sonst fairen Partner.
Haben Kunden größere Mengen zu bestellen, sei es hilfreich, „individuelle Termin- und Abrufaufträge zu vereinbaren, um vorausschauend planen und bedarfsgerecht abrufen können“, so Ralf Bühler, Conrad. Und David Stein, Digi-Key, ergänzt: „Aus technischer Sicht sollte der ODM/OEM darauf achten, mehrere Lieferanten für das Commodity-Produkt zuzulassen, wo er kann. In den verschiedenen Knappheitszyklen, die die Halbleiterindustrie in den letzten Jahrzehnten durchlaufen hat, waren die Commodity-Produkte im Allgemeinen sehr stark betroffen.“
Letztendlich sollten Kunden auch einen ausreichenden Pufferbestand aufbauen. Und diesen gilt es, so Lee Turner, Farnell, „regelmäßig, zu überprüfen, ob die Lieferung planmäßig erfolgt – und das bedeutet, ein, zwei und drei Monate im Voraus und nicht erst zwei Wochen vorher. Während der Pandemie reagierten die OEMs auf Abschaltungen und Veränderungen in der Nachfrage, indem sie ihre Bestellungen stornierten oder reduzierten, in dem Glauben, dass das Angebot wieder erhältlich ist, wenn sie die Produktion Wochen oder Monate später wieder hochfahren.
Doch es hat sich gezeigt, dass dieser riesige Vorrat an scheinbar ungenutzten Halbleitern nicht tatsächlich ungenutzt in den Fabriken lag. Denn aus der Pandemie erwuchs ein neuer Markt, und die ursprünglichen Nachfrager hatten Mühe, die benötigten Bauteile zu beschaffen, als sie ihre Produktion wieder hochfahren wollten.“
Eine Bitte an die Kunden
Fazit: Die Halbleiter- und Bauteileverknappung ist eine große Herausforderung für alle Beteiligten entlang der Supply Chain. Und das Gros ist bestrebt, sein Bestes zu geben. Nicht wenige arbeiten oftmals an der Belastungsgrenze. Thomas Gerhardt, Glyn, erläutert für die Distributoren: „Alle Termine, die sonst automatisch laufen, müssen manuell verifiziert und ständig verfolgt werden.
Kunden mit langfristig vertraglichen Zusagen, eingeschwungenem Logistiksystem und sauberen Forecasts fahren am besten, denn für sie konnten wir bereits frühzeitig aktiv werden. Lageraufbau ist kaum möglich, weil alles weggekauft wird. Und jetzt kommen von den Vorlieferanten auch noch mühsame Diskussionen wegen Preisanpassungen dazu. Wir kämpfen wie die Verrückten für die Kunden und versuchen, so viele Wünsche wie möglich zu erfüllen.“
Am besten lässt sich die Krise meistern, wenn alle Beteiligten Hand in Hand zusammenarbeiten. An die Kunden hat nicht nur Rutronik folgende Bitte: „Damit wir Liefersicherheit gewährleisten können, bitten wir unsere Kunden um eine enge Zusammenarbeit mit uns sowie eine frühzeitige und langfristige Planung ihrer Bedarfe.“
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