Physik oder Chemie? Die große Rolle des Leiterplattenmaterials
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Die Funktion einer elektronischen Baugruppe wird bevorzugt an physikalischen Eigenschaften gemessen. Etwas verborgen und in der Bedeutung vernachlässigt bleibt traditionell die Leiterplatte. Zu Unrecht.

Damit eine elektronische Baugruppe funktionieren kann, müssen zwischen den elektromechanischen Komponenten Informationen ausgetauscht werden. Das kann nur stattfinden, wenn die elektrischen Komponenten mit Energie versorgt werden. Der Transfer der Informationen und der Energie erfolgt über die Leiterplatte.
Die Erfindung der Leiterplatte ermöglichte die industrielle Produktion von elektronischen Baugruppen. Wichtig für die automatisierte Aufnahme von elektromechanischen Komponenten war/ist die mechanische Stabilität des Leiterplattenmaterials. Damit unterschiedliche Signale und unterschiedliche Powerpotentiale eigenständige Räume benutzen können, muss das Material gleichzeitig leitende und isolierende Eigenschaften ausweisen.
Für den Transfer der Signale und die Stromversorgungen wird Kupfer genutzt. Deshalb ist das Basismaterial mit aufgeklebtem Kupfer versehen. Und das Ätzen des Leiterbildes, also das Entfernen des nicht benötigten Kupfers für eine Baugruppe ist ein wichtiger Fertigungsschritt während der Produktion der Leiterplatten.
Speicherkapazität
Die Isolation zwischen Leiterbahnen und unterschiedlichen Potentialen ergibt sich durch die chemische Beschaffenheit des Basismaterials. Basismaterial ist aber kein 100%-Isolator und kann elektrische Energie speichern. Man bezeichnet Basismaterial auch als Dielektrikum und beschreibt mit dem Epsilon-R-Wert (~ εr) die Verschiebbarkeit der Ladungsträger in einem elektrischen Feld. Werden in einem Multilayeraufbau Potentiale mit Differenz (z.B. +5V und 0V) in möglichst geringem Abstand (verfügbar sind 50µm) platziert, dann wird elektrische Energie innerhalb der Leiterplatte gespeichert und steht den Komponenten vor Ort zur Verfügung (Formel 1).
Hinweis: „Dielektrikum“ ist der Epsilon-R-Wert des Basismaterials, „Länge“ und „Breite“ in [mm] sind die Dimension der Fläche benachbarter Powerplanes, „Dicke“ ist der Abstand der Powerplanes zueinander in [µm]. Der Epsilon-R-Wert wird als „dielektrische Konstante“ bezeichnet, ist aber auf elektronischen Baugruppen nicht konstant, sondern von der Betriebsfrequenz abhängig. Klassisches FR4-Material hat bei einer Frequenz von 1GHz einen Wert von zirka 4,1.
Beispiel: Die Kapazität zwischen ganzflächigen Powerplanes einer Europakarte (~ 100 * 160 mm) mit einem Abstand von GND und VCC von 50µm liegt bei zirka 11,62 nF.
Die ganzflächig in einem Multilayer verfügbare physikalische Energie unterstützt eine kontinuierliche, weitestgehend störungsfreie Versorgung der Komponenten mit elektrischer Energie und fördert ein positives EMV-Verhalten.
Signalgeschwindigkeit
Die chemische Eigenschaft des Dielektrikums beeinflusst die physikalische Geschwindigkeit eines Signals auf einer Leiterbahn (Formel 2).
Hinweis: „c“ ist die Lichtgeschwindigkeit von zirka 30cm/ns. Mit der Variablen „εr“ wird die relative Dielektrizitätskonstante oder auch die relative Permittivität (lat. permittere ~ durchlassen) des Basismaterials bezeichnet.
Beispiel: Vorgegeben ist eine relative Permittivität von 4,10 bei einer Frequenz von 1GHz (Referenz ist FR4 des Typs NP-155 der Firma NanYa). Die effektive Permittivität ergibt sich aus der effektiven Dielektrizitäts-Eigenschaft, die sich aus den Geometrien des Lagenaufbaus und aufgebrachter Lacke ergibt.
In einem Multilayer ist das effektive Epsilon-R auf der Innenlage höher als auf der Außenlage. Signale sind deshalb auf den Innenlagen langsamer (~ 14,85 [cm/ns]), als auf den Außenlagen z.B. unter Lötstopplack (~15,38 [cm/ns]). Müssen Bussysteme über die Weglänge synchronisiert werden und können aus geometrischen Gründen nur innen und außen geroutet werden, dann müssen die Leiterbahnen auf den Außenlagen länger sein als auf den Innenlagen, weil die Signalgeschwindigkeit außen höher ist (Bild 1).
Pauschal gilt, dass die Signalgeschwindigkeit zunimmt, wenn der Wert für das Dielektrikum abnimmt, und dass die Speicherkapazität elektrischer Energie zunimmt, wenn der Wert für das Dielektrikum zunimmt. Damit ergibt sich beispielsweise für Highspeed-CPUs die Strategie eines Hybridaufbaus mit Basismaterial im Signalraum mit einem relativ niedrigen εr und Basismaterial im Stromversorgungsraum mit einem relativ hohen εr.
Durchschlagsfestigkeit
Weil das Dielektrikum nur bedingte Isolationseigenschaften hat, ist die typische, von der chemischen Zusammensetzung des Basismaterials abhängige Durchschlagsfestigkeit in kV/mm insbesondere bei Baugruppen zu beachten, die eine hohe Kurzschlussfestigkeit haben müssen. Eine Anforderung, die im automotiven Umfeld zunehmend Bedeutung gewinnt. Auch die Durchschlagsfestigkeit ist von der Chemie des Dielektrikums abhängig. Deutlich wird das beim Vergleich unterschiedlicher FR4-Derivate. Je nach Basismaterialhersteller liegen die Werte bei „FR4“ zwischen 32 und 56 kV/mm. „FR4“ hat als Basismaterialbezeichnung also kein Alleinstellungsmerkmal.
Für FR4-Materialien mit unterschiedlichen Dielektrika muss folglich die Chemie unterschiedlich sein. Und es müssen in Summe auch die individuellen anderen physikalischen Eigenschaften des Basismaterials geprüft werden.
Für die Spezifikation einer Leiterplatte ist also die Angabe „FR4“ nicht ausreichend. Wenn eine ausreichende Durchschlagsfestigkeit des Basismaterials sichergestellt sein muss, dann müssen auch der Basismaterialhersteller und der FR4-Typ dieses Basismaterialherstellers in der Dokumentation/Spezifikation der Leiterplatte gelistet werden.
FR4-Standard
„FR4“ ist das typische Dielektrikum für Basismaterial. „FR“ steht für „Flame retardend“ (flammhemmend) oder „Flame resistant“ (flammfest) und soll in der Bezeichnung bereits auf die sehr wichtige Eigenschaft hinweisen, dass das Basismaterial nur sehr eingeschränkt selbstentzündlich ist.
FR4 ist ein Polymer aus Epoxidharz, an das über das Molekül Tetrabrombisphenol A (~TBBA) das Halogen Brom angebunden ist, das für die deutlich reduzierte Entzündlichkeit sorgt. FR4 ist ein duroplastischer Kunststoff, dessen Moleküle nach Aushärtung nicht mehr verformt werden können. Das Ausgangsmaterial für das Dielektrikum von Leiterplatten sind Prepregs, mit Epoxidharz beschichtete Glasgewebe (Prepreg ~ preimpregnated = vorimprägniert). Für doppelseitiges Basismaterial schichtet der Basismaterialhersteller so viele Prepregs übereinander plus außenliegende Kupferfolien in der gewünschten Dicke, bis die angestrebte Enddicke, während eines Pressprozess durch das Verkleben der Materialien erreicht werden kann.
Bei Multilayern werden die vorab produzierten Innenlagen mit Prepregs und außenliegenden Kupferfolien verklebt (Bild 2). Epoxidharz eignet sich sehr gut als Klebstoff für diese Aufgabe ist aber nicht unbegrenzt thermisch belastbar. Zu hohe Löttemperaturen (über 260°) verringern die (chemische) Klebkraft und können zu Delaminationen führen. SMD-Bauteile sind zwar auf Kupferflächen gelötet, die Kupferflächen wiederum kleben aber auf dem Dielektrikum des Basismaterials. Durch die Löttemperatur bei bleifreien Loten kann sich die Klebkraft von Lötflächen auf den Layern der Leiterplatte um bis zu 60% verringern.
Materialausdehnung – Hoch-Tg
Die Herstellung von Leiterplatten kann thermisch intensiv sein (Verpressen/Verkleben von Multilayern, Aushärten von Lacken), gleiches gilt für das Löten (Welle, Reflow, Repair) und den Baugruppenbetrieb (Betriebstemperatur). Physikalisch hat der Wärmeeintrag eine Ausdehnung des Basismaterials zur Folge. Die Ausdehnung wird in ppm (~ parts per million) angegeben, was dem üblichen physikalischen Faktor 10-6 entspricht. Die CTE-Werte (~ coefficient of thermal extension) in x, y und z liegen für FR4 mit einem Tg (~ glass transition temperature) von 135° bei 14/14/160 ppm für x, y, z.
„Tg“ wird fälschlicherweise umgangssprachlich mit „Glasübergangstemperatur“ bezeichnet.
Glas bleibt aber Glas und was sich ab dem Tg-Wert ändert, ist die Weichheit und Mobilität der chemischen Struktur des Epoxidharzes. Es wird weicher, dehnt sich jenseits des Tg-Wertes intensiver aus, erreicht ppm-Werte in y von 320 bis 360 und provoziert lokale Delaminationen und Hülsenrisse der Vias.
Weil die Ausdehnung bei FR4 praktisch nicht im Glasgewebe, sondern vornehmlich nur im Epoxidharz stattfinden kann, wurden mit Einführung bleifreier Lote zur Jahrtausendwende Basismaterialien mit höheren Tg-Werten (> 135°) hergestellt, um Delaminationen zu vermeiden. Dazu wurde seitens der Basismaterialhersteller ein Teil (bis zu 25%) des Epoxid-Dielektrikums durch mineralische Füllstoffe ersetzt.
Die Z-Achsenausdehnung konnte dadurch für viele Basismaterialien um bis zu 75% (~ CTE(z) 40ppm) verringert werden, allerdings ergaben sich durch die Modifikation der Chemie des Dielektrikums auch physikalische Veränderungen, die Dielektrizität (Impedanz, Speicherkapazität), die Durchschlagskraft und die Klebkraft des Epoxidharzes (bis zu -60%) betreffend. Die verringerte chemische Stabilität und die physikalische Belastung können dann zu lokalen Delaminationen und/oder Rissen des Kontaktierungskupfers insbesondere in den Viahülsen führen (Formel 3).
Die ppm-Werte in z werden oft zitiert, die Werte in x und y werden jedoch zu Unrecht vernachlässigt. 40ppm führen in z-Richtung bei einer Temperaturdifferenz dT von 130° zu einer Ausdehnung von 7,8µm bei einer Leiterplattendicke von 1,5mm. Aber 10ppm in x und y führen bei gleicher Differenz dT zu einer Ausdehnung von 130µm. Selbst geringe Ausdehnungskoeffizienten des chemischen Basismaterialsubstrates können also zu Spannungen zwischen Leiterplatten und großen (SMD-) Komponenten während des Lötprozesses führen.
Unterschiedliche Dielektrika
Die chemische Spezifikation des Dielektrikums der Basismaterialien muss im Vorfeld einer Projektentwicklung festgelegt werden. Dadurch werden nicht nur die erwähnten physikalischen Eigenschaften vorgegeben, sondern auch die Folgen thermischer und chemischer Belastbarkeit.
Für Sicherheitseinrichtungen wird oft Polyamid bevorzugt wegen seiner thermischen Belastbarkeit. Für optische Einrichtungen ist ein Dielektrikum mit geringer Ausgasung und möglichst geringem Niederschlag von H2O von Vorteil. Für medizinische Anwendungen muss das Dielektrikum ohne Ausgasung aggressiver Substanzen sein.
Dass das Dielektrikum während der Produktion von Leiterplatten und Baugruppen aber auch bei Betriebstemperatur während der späteren Anwendung oder bei einem Brandunfall schädliche chemische Substrate als Gas abgeben kann ist wenig bekannt und noch nicht Teil einer medizinischen Anamnese.
Beispiel: FR4 ist als Feststoff in der Produktion von Leiterplatten und Baugruppen relativ unbedenklich. Die Einzelkomponenten dagegen sind kritisch. Epichlorhydrien ist ein kanzerogenes Kontaktgift, Tetrabrombisphenol A wird ebenfalls so eingestuft. Dicyandiamid steht bei RoHs II auf der Liste der zu vermeidenden Substanzen und soll durch einen phenolischen Härter ersetzt werden, dessen Wirkung auf Schleimhäute wiederum als reizend und ätzend eingestuft wird.
Alternativ zu FR4 wird gerne PTFE (~ Polytetrafluoräthylen) genommen, das extreme Einsatztemperaturen (+260 °C) ermöglicht und beständig ist gegen aggressive Säuren, Basen, Alkohole, Benzine und Öle. Allerdings gast im Brandfall bei Temperaturen über 360 °C Kohlenoxiddifluorid (COF2) aus, das zu Polymerfieber führt und bei längerem Einatmen tödlich ist.
Sicherheitsaspekte
Die Sicherheitsmaßnahmen in Brandfällen berücksichtigen die möglichen negativen gesundheitlichen Schäden für Menschen selten und wenn ja, dann mit unzureichender Intensität. Grundsätzlich gilt, dass man sich von brennender Elektronik ausreichend entfernt und die entstehenden Gase nicht einatmet.
Damit gerät auch die Entsorgung von Elektronik in die Aufmerksamkeit. Wenn weltweit zehntausende von elektronischen Baugruppen pro Tag hergestellt werden, dann müssen irgendwann ja auch weltweit zehntausende von Baugruppen „ordnungsgemäß“ entsorgt werden. Wie das geregelt, gesteuert und kontrolliert werden kann, ist weitestgehend unbekannt und/oder wird unterschätzt. Die aktuelle Gesetzgebung kann die Aufgabe nicht lösen, weil es keine ausreichende Verpflichtung des Herstellers gibt, die für eine Baugruppe eingesetzten Materialien öffentlich z.B. in einer Cloud für jedermann weltweit zu dokumentieren. Eine zielgerichtete, optimale und fachgerechte Entsorgung ist unter den aktuellen Umständen ausgeschlossen.
Fazit: Physik und Chemie
Physik oder Chemie? So kann die Frage gar nicht gestellt werden. Es gibt nur das „und“, also „Physik und Chemie“. Wir müssen uns um beides kümmern, denn die Physik bestimmt die Anforderungen an die Chemie und die Chemie bestimmt die Möglichkeiten der Physik. Der Blick kann sich nicht nur auf die Chemie des Dielektrikums beschränken. Auch der Lötstoplack und der Bestückungsdruck haben eine physikalische Wirkung auf den Signaltransfer. Dazu kommen Vergussmassen auf der Oberfläche von Baugruppen (z.B. Polyurethan), die in einer aggressiven Umgebung eingesetzt werden.
Ohne die vollständige öffentliche Dokumentation von Baugruppen ist die Aufgabenstellung der fachgerechten Entsorgung veralteter Elektronik ausgeschlossen.
Tagung Leiterplatten- und Baugruppentechnologie
Möchten Sie mehr zum Einfluss der Chemie auf elektronische Baugruppen erfahren? Dann besuchen Sie uns zur 6. Fachtagung zur Leiterplatten- und Baugruppentechnologie am 24.und 25. Mai 2023 im Vogel Convention Center in Würzburg: www.leiterplattentag.de. (jw)
* Arnold Wiemers ist technischer Direktor der LA - LeiterplattenAkademie GmbH in Berlin.
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