MDR-Compliance Klinische Bewertung elektronischer und digitaler Medizinprodukte

Von Prof. Dr. med. Hans-Peter Zenner*

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Sämtliche elektronische Medizinprodukte und alleinstehende Softwareprodukte bis hin zu digitalen Gesundheits-Apps (DiGA) brauchen eine Klinische Bewertung zum Nachweis ihrer klinischen Wirksamkeit. So sieht es die MDR ausnahmslos vor.

Prof. Hans-Peter Zenner: Den Autor dieses Beitrages können Sie live hören am 26. Januar  im Rahmen der Digitalkonferenz www.medizinelektronik-mdr.de
Prof. Hans-Peter Zenner: Den Autor dieses Beitrages können Sie live hören am 26. Januar im Rahmen der Digitalkonferenz www.medizinelektronik-mdr.de
(Bild: CRO HP Zenner Clinical)

Die Klinische Bewertung eines elektronischen oder digitalen Medizinprodukts kann eine Klinische Studie mit umfassen: für neuartige Produkte, implantierbare Medizinprodukte und Produkte der Klasse III ist sie sogar grundsätzlich vorgeschrieben. Praktische Erfahrungen mit Klinische Bewertungen von elektronischen Medizinprodukten zeigen, dass sie durch die MDR und die MEDDEV 2.7/1 Revision 4 grundsätzlich sehr aufwändig geworden sind.

Zum hohen Aufwand gehören gem. Art. 6 der MEDDEV auch die wesentlich erhöhten Anforderungen an die klinische Kompetenz der Autoren. Sie greifen fast immer bei elektronischen und digitalen Medizinprodukten und können in der Regel nur noch von wissenschaftlich erfahrenen Fachärzten erfüllt werden. Nicht umsonst weist die MEDDEV beispielhaft auf den Einsatz von Fachärzten als Autoren hin.

MDR und MEDDEV 2.7/1 Rev. 4 stellen ausführlich dar, wie klinische Bewertungen durchzuführen sind. Eine nach MDR erstellte Klinische Bewertung für elektronische und digitale Medizinprodukte enthält typischerweise folgende Themenkreise:

  • Klinischer Bewertungsplan
  • Klinischer Entwicklungsplan
  • Analyse präklinischer Daten
  • Analyse klinischer Daten
  • Literaturverfahren
  • Äquivalenzverfahren
  • Klinische Konformitätsprüfung
  • Gap-Analyse
  • Ethische Risiko-Nutzen-Bewertung
  • Klinischer Bewertungsreport (CER)
  • PMS/PMCF

Bis auf das Äquivalenzverfahren sind die genannten Themenkreise der MDR-konformen Klinischen Bewertung entweder neu oder die Anforderungen wurden wesentlich verschärft. Aber auch das Äquivalenzverfahren wird von der MDR betroffen: die Hersteller müssen nämlich die Daten des Vergleichsprodukts besitzen. Bei Klasse III- und implantierbaren Geräten benötigt er beispielsweise einen vertraglich geregelten Zugang zu den Daten und Prüfergebnissen des Fremdherstellers.

Outsourcing an eine Clinical Research Organization

Ein Unternehmen wird eine Klinische Bewertung für ein anspruchsvolles elektronisches oder digitales Medizinprodukt (z.B. aktives Implantat, Bildgebung, elektrophysiologisches Diagnosegerät) im Rechtsrahmen der MDR selbst erstellen, wenn es die In-House-Ressourcen gem. Artikel 6 der MEDDEV besitzt (z.B. eine eigene Medizinische Abteilung). Eine strategische Alternative besteht im Outsourcing an eine die MEDDEV-Anforderungen erfüllende Clinical Research Organisation (CRO).

Die Bewertung beruht dann auf Daten zahlreicher sehr unterschiedlicher Quellen. Typische Quellen sind eigene Daten aus Forschung und Entwicklung, anerkannte Literaturdatenbanken, Nationale Leitlinien, FDA- und BfArM-Datenbanken oder Marktdaten. Die Bewertung umfasst den Nachweis der behaupteten klinischen Funktion einschließlich des Ausmaßes der klinischen Effektstärke und der damit verbundenen Wirksamkeit und Sicherheit am Patienten. Weitere klinische Aspekte können beispielsweise Hygieneanforderungen bis zur Sterilisierbarkeit, Biokompatibilität, Dichtigkeit, Festigkeit oder auch die Messgenauigkeit eines Produkts in der klinischen Anwendung umfassen.

Hinzukommen können Fragen der Kompatibilität mit anderen Produkten einschließlich Fremdprodukten im Anwendungsalltag und die Untersuchung der Verständlichkeit der Sicherheits‐ und Gebrauchsanweisung sowie von Schulungsprozeduren auf Vollständigkeit und Verständlichkeit für medizinische Fachkräfte bzw. Laien. Die Bewertung wird abgeschlossen durch die Prüfung der Vertretbarkeit des Nutzen‐/Risiko‐Verhältnisses. Bei dieser abschließenden Abwägung von Risiko, Belastung und Nutzen muss der Nutzen deutlich überwiegen.

Die jetzt fast zweijährigen Erfahrungen nach dem neuen Verfahren haben gezeigt, dass Durchführung und Dokumentation (z.B. in Form eines CER, Clinical Evaluation Report) hochkomplex geworden sind. Eine zuvor in dieser Höhe nicht gekannte Zahl von Daten (technische und klinische Daten) aus den Forschungs-, Entwicklungs-, Produktions- und Marktüberwachungs-Datenbeständen des Herstellers, aus den Datenbasen internationaler Zulassungs- und Überwachungsbehörden, aus internationalen wissenschaftlichen Literaturdatenbänken muss mittels vollständigem Data-Mining lückenlos gesucht und gefunden und anschließend gelesen, ausgewertet und bewertet werden müssen.

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Die Arbeitsprozesse (z.B. auf welchem Weg jede einzelne wissenschaftliche Publikation identifiziert wurde) müssen für jedes Dokument dokumentiert werden. Eine lückenlose Rückverfolgbarkeit eines jeden ausgewerteten und auch eines jeden nicht relevanten Dokuments einschließlich jeder identifizierten publizierten peer-reviewed wissenschaftlichen Arbeit muss durch die Dokumentation gewährleistet werden. Für jedes nicht ausgewertete Dokument muss eine schriftliche Begründung für die Nicht-Relevanz hinterlegt werden. Alle potenziell und tatsächlich relevanten Dokumente müssen als Volltexte gewonnen (ggfs. beim Verlag erworben) und gespeichert werden als auch wieder auffindbar sein. Dies schließt die peer-reviewed wissenschaftlichen Publikationen mit ein.

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Die gesamte Volltextbank, die Dokumentation der rückverfolgbaren Prozesse (für jedes Dokument) und der jeweilige CER müssen der von der EU-Kommission Benannten Stelle, der nationalen Aufsichtsbehörde und im Rahmen des neuen EU-Konsultationsverfahren (Art. 54 MDR ) ggfs. für ein EU-Scruting (Kontrollmechanismus gem. Art. 55 MDR) vorgelegt werden können. Die Zahl der auszuwertenden technischen, klinischen und wissenschaftlichen Dokumente geht ausnahmslos in die hunderte und kann die Zahl 1000 überschreiten.

Klinische Anforderungen an ein Medizinprodukt

Aus der Analyse der Daten aus Klinik, Präklinik, Literatur und Datenbanken ergeben sich typische klinische Anforderungen an das Medizinprodukt. Diese klinischen Anforderungen müssen den Eigenschaften des Medizinproduktes gegenübergestellt werden und es muss klinisch bewertet werden, inwieweit das Medizinprodukt die Anforderungen erfüllt. Darüber hinaus kann man der Analyse typischerweise eine Vielzahl von realisierten und publizierten klinischen Risiken und klinischen Komplikationen entnehmen. Die klinische Bewertung umfasst daher weiterhin eine Analyse, inwieweit das Produkt so ausgestaltet ist, dass diese Risiken und Komplikationen minimiert werden. Es folgt dann die klinische Überprüfung der „Compliance with Safety and Performance Requirements“. Die eigentliche Bewertung schließt mit einer Abwägung zwischen Nutzen und Risiken und ihrer ethischen Vertretbarkeit ab.

Weiterhin werden aus klinischer Sicht mögliche Lücken als sogenannte Gap Analyse dargestellt. Diese können in einem abschließenden Kapitel zur Klinischen Studie Post Market Surveillance (PMS) zu Vorschlägen führen, wie diese Lücken ausgeglichen werden können. Als Ergebnis kann sich stattdessen aber auch die Empfehlung zu einer Klinischen Studie ergeben.

Aufwand Clinical Evaluation Report (CER): Literatursuchprotokoll (4- bis 6-stufig) mit z.T. mehr als 1000 Bibliografien, Referenzen und Quellenlinks, Volltextarchiv (z.T. mehrere hundert Volltexte), Bearbeitungszeit Fachexperten (z.B. Facharzt) 100 bis 300 Stunden plus Backoffice-Arbeit
Aufwand Clinical Evaluation Report (CER): Literatursuchprotokoll (4- bis 6-stufig) mit z.T. mehr als 1000 Bibliografien, Referenzen und Quellenlinks, Volltextarchiv (z.T. mehrere hundert Volltexte), Bearbeitungszeit Fachexperten (z.B. Facharzt) 100 bis 300 Stunden plus Backoffice-Arbeit
(Bild: CRO HP Zenner Clinical)

In diesem Zusammenhang sei darauf hinweisen, dass die Durchführung einer PMS und hier insbesondere eines systematischen PMCF (Post Market Clinical Follow Up) dazu führen kann, dass der Hersteller in den folgenden Jahren möglicherweise in den Besitz einer großen Zahl von klinischen Daten für sein Produkt kommen kann. Diese Daten können ausreichend sein, die Rezertifizierung erleichtern, ohne dass eine klinische Studie mit dem Produkt erforderlich ist. Grundsätzlich ist eine klinische Studie nämlich ethisch dann nicht zu rechtfertigen, wenn genügend andere klinischen Daten vorliegen. Auf diese Weise kann es zu einem begründeten Verzicht auf eine klinische Studie kommen.

Als Ergebnis ist auf diese Weise ein Klinischer Bewertungsreport (CER) von ca. 150 bis 300 Seiten entstanden.

Klinischen Evaluations- und Entwicklungsplan möglichst früh erstellen

Die hier geschilderte Klinische Bewertung wird gegenwärtig gegen Ende des Zertifizierungs- oder Rezertifizierungsprozesses durchgeführt. Wenn als Ergebnis eine Klinischen Studie zweckmäßig ist, geht anschließend wertvolle Zeit im Wertschöpfungsprozess des Unternehmens verloren. Aus diesem und aus regulatorischen Gründen sollte der Klinische Evaluations- und Entwicklungsplan (CEP, s.o. in der Aufzählung der Themenfelder einer Klinischen Bewertung) als erster Teil der gesetzlich vorgeschriebenen Klinischen Bewertung möglichst früh in der Entwicklung eines Medizinproduktes erstellt werden.

Dies gibt dem Hersteller die Möglichkeit, die klinische Expertise der Klinischen Evaluatoren gem. Artikel 6 der MEDDEV bereits für den Verlauf der technischen Entwicklung zu nutzen (und dies im CEP zu dokumentieren). Dies kann die Planung und Bewertung von in vitro-Untersuchungen umfassen. Im Einzelfall kann es sich auch um Tierversuche oder um Untersuchungen an menschlichen Körperspendern handeln. Vor allem aber kann frühzeitig die Notwendigkeit oder der Verzicht auf eine Klinische Prüfung abgeklärt und im CEP dokumentiert werden. Eine unerwartete spätere Unterbrechung der Wertschöpfungskette kann vermieden werden.

Embedded Software und Software als Zubehör eines Medizinprodukts

Elektronische Medizinprodukte besitzen in der Regel auch eine Software (Medical Device Software, MDSW). Embedded Software und Software als Zubehör zu einem Medizinprodukt werden aus Sicht der Klinischen Bewertung gemeinsam mit dem physischen Medizinprodukt bewertet. Ein Sonderfall ist Software, die nur der Steuerung der Hardware dient. Da sie keinen eigenen medizinischen Zweck hat, ist sie nur Zubehör, das nicht notwendigerweise in der Klinischen Bewertung berücksichtigt wird.

Stand-alone-MDSW hingegen ist immer ein eigenständiges Medizinprodukt. Sie muss eigenständig klinisch bewertet werden. Zur Frage, wann unter der MDR eine Stand-alone-Software ein Medizinprodukt ist, nimmt das Dokument MCDG 2019-11 Stellung. Danach entscheidet die vom Hersteller formulierte Zweckbestimmung darüber, ob seine Software ein Medizinprodukt ist; die Funktionalitäten der Software sind irrelevant.

Wenn die Software laut Hersteller zur Diagnose, Therapie oder Überwachung vorgesehen ist, ist sie ein Medizinprodukt. Und zwar gleichgültig, wo die Software läuft (also auch in einer Cloud oder im Smartphone), ob Laie oder medizinische Fachkräfte sie nutzen oder auch ob sie in Verbindung mit einem anderen Medizinprodukt genutzt werden oder nicht. Auch Digitale Gesundheits-Apps (DiGA) finden sich hier wieder und müssen deshalb eine Klinische Bewertung durchlaufen.

Nach Klassifizierungs-Regel 11 fällt Einzel-Software zukünftig kaum noch in die Klasse I, die meiste Software, und zwar solche Software, die Informationen liefert, um Entscheidungen für diagnostische oder therapeutische Zwecke treffen zu können, fällt in Klasse IIa oder höher.

Die klinische Bewertung von Einzel-Software prüft, ob die Software den versprochenen Nutzen liefert. Erleichtert wird die Klinische Bewertung dadurch, dass Stand-alone-Software in der Regel nur zwei wesentliche Schnittstellen hat: die (graphische GUI) Benutzer-Produkt-Schnittstelle und die Produkt-Produkt- (Daten-) Schnittstelle. In einfachen Fällen können Leistungs-Daten und Verifizierungsergebnisse ausreichen. Bei Algorithmen, z.B. zur Ermittlung von Scores, kann die klinische Bewertung anhand von Literaturdaten möglicherweise nachweisen, dass der Algorithmus klinisch validiert wurde. Falls die Algorithmen hingegen komplexer sind, kann zum Nachweis einer klinischen Effektstärke eine Klinische Prüfung notwendig sein.

Mit dem Digitale-Versorgung-Gesetz (DVG) und der dazugehörigen Rechtverordnung wurde ein Leistungsanspruch der gesetzlich Versicherten auf Digitale Gesundheits-Apps (DiGA) geschaffen. Voraussetzung ist der Nachweis eines medizinischen Nutzens oder eine Verfahrens- und Strukturverbesserung. Wird dieser Nachweis bereits mit der Klinischen Bewertung für die CE-Zertifizierung nach MDR erbracht, dann hat der Hersteller die Anforderungen an Sicherheit und Funktionstauglichkeit der Rechtsverordnung grundsätzlich bereits erfüllt.

* Prof. Dr. med. Hans-Peter Zenner ist Geschäftsführender Gesellschafter der H.P. Zenner Clinical GmbH & Co KG, einer fachärztlichen CRO zur Durchführung von Klinischen Bewertungen und Klinischen Studien für Medizinprodukte- und Pharmahersteller. Zuvor war er Ärztlicher Direktor an einem Universitätsklinikum und Vorsitzender einer Ethikkomission gem. MPG und AMG.

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