Graphen in der Medizintechnik Daten-Detektive in der Qualitätskontrolle
Mit der Graphtechnologie lässt sich die Qualität von medizinischen Produkten bewerten. Um Fehlerquellen entlang der Produktionskette schnell aufzuspüren, setzt Boston Scientific bei der Qualitätskontrolle auf die Graphen.
Anbieter zum Thema

Ein Qualitätsmangel bei medizintechnischen Produkten ist nicht nur aufgrund des direkten Kontaktes mit einem Menschen inakzeptabel. Wie in anderen Branchen auch, gefährden Qualitätsmängel den Markteintritt des Produkts, verursachen Ausschuss und treiben qualitätsbedingte Kosten (COPQ).
Firmen haben unterschiedliche Werkzeuge, um Fehlerquellen entlang der Produktionskette zu identifizieren. So setzt beispielsweise der US-Hersteller Boston Scientific bei der Qualitätskontrolle auf die Graphtechnologie. Der Medizintechnik-Hersteller bietet über 70 Produktkategorien an. Die Spanne reicht vom Herzschrittmacher und Stents über renale Denervierungssysteme (Behandlung von Bluthochdruck) bis hin zu Beatmungsgeräten.
Jährlich werden rund 130.000 hochkomplexe Produkte (Stand 2019) realisiert, die strenge Sicherheitsstandards und regulatorische Auflagen erfüllen müssen. Vor- und nachgelagerte Fertigungsstufen sind in einem Produktionsprozess internalisiert, der auch die Verarbeitung von Rohmaterialien wie Harz und Metall mit einschließt. Die Batchfertigung, die hohe Fertigungstiefe und die komplexe Supply Chain erfordern ein ganzheitliches Qualitätsmanagement über den gesamten Produktionszyklus hinweg.
Qualitätsmanagement über alle Fertigungsstufen
Allerdings ist ein einheitlicher Ansatz nicht trivial. Die komplexen Produkte werden in der Regel von zahlreichen Engineering-Teams entwickelt, deren Expertise sich auf die jeweiligen Komponenten und Subkomponenten sowie einen entsprechenden Software-Anteil konzentriert. Fehler der einzelnen Teams wurden nur isoliert voneinander analysiert. Oft arbeiteten verschiedene Teams an unterschiedlichen Standorten an ein und demselben Problem. Schnelle Analysen erfolgten dezentral und die Ergebnisse wurden oft in Excel-Tabellen festgehalten. Das erschwerte den Informationsaustausch.
Für ein konsistentes Qualitätsmanagement über alle Fertigungsstufen hinweg hat Boston Scientific begonnen, Produkt-, Fertigungs- und Prozessdaten in einer Gesamtansicht zu verknüpfen. Ziel war es, Produktfehler nicht nur frühzeitig zu erkennen, sondern außerdem die Fehlerursache zu identifizieren und bis auf die jeweilige Charge und Material zurückzuverfolgen. Den Data-Scientists von Boston Scientific war schnell klar: Die Daten konnten mit einem relationalen Datenbanksystem nicht verarbeitet, verknüpft und gespeichert werden, wie es in herkömmlichen PDM- und MDM-Systemen zum Einsatz kommt. Das Team entschied sich daher für Graphtechnologie und Graphdatenbanken.
Vernetzte Daten im Graphen modellieren
Graphdatenbanken sind speziell dafür konzipiert, große vernetzte Daten zu speichern und abzufragen. Anders als bei relationalen und SQL-Datenbanken, speichern sie Daten nicht in Tabellen und Spalten, sondern in einem intuitiv nachvollziehbaren Datenmodell aus Knoten und Kanten. Was abstrakt klingt, ist im Grunde einfach erklärt: Eine an ein White Board gezeichnete Mind-Map mit Strichen und Kreisen entspricht demselben Prinzip. Auch das S-Bahn-Netz einer Stadt, in dem der Knoten „Hauptbahnhof“ über die Linie S8 mit dem „Flughafen“ verbunden ist, stellt einen Graphen dar.
Bei Boston Scientific setzt sich der Graph aus einem einfachen Datenmodell mit drei Knoten zusammen: Bauteil, Endprodukt und Fehler (Bild 1). Die Verbindungen (Kanten) zwischen den jeweiligen Knoten machen auf einen Blick die Zusammenhänge klar und zeigen, welche Komponenten für den in einem Produkt aufgetretenen Fehler verantwortlich ist. Das Modell lässt sich beliebig skalieren und kann so problemlos die unzähligen Bauteile hochkomplexer Produkte anschaulich wiedergeben.
Graphalgorithmen helfen bei schnellen Abfragen
Im Graphen fasst Boston Scientific Millionen von Endprodukten und Milliarden von Komponenten zusammen und gewinnt einen ganzheitlichen Blick auf seine Produkte. Für die Analyse kommen Graph-Algorithmen zum Einsatz, die speziell auf große Mengen vernetzter Daten ausgerichtet sind. Dadurch lassen sich nicht nur einzelne fehlerhafte Komponenten erkennen, sondern auch alle relevanten Subkomponenten und Endprodukte (Downstream) sowie eingesetzte Rohmaterialen (Upstream).
Die Algorithmen folgen im Graphen den Verbindungen von Knoten zu Knoten (Traversieren), erfassen automatisch alle betroffenen Komponenten und dringen so bis zur Ursache von Fehlern vor. Gleichzeitig lässt sich der Umfang und die Reichweite der fehlerhaften Komponenten bestimmen und eingrenzen, um beispielsweise risikobehaftete Batches frühzeitig aus dem Fertigungsprozess zu nehmen. Verarbeitet werden lediglich die für die Fehleranalyse nötigen Daten, was die Abfragegeschwindigkeit deutlich erhöht und aufwändige Analyseschritte überflüssig macht. Die Fehlersuche kann so in nahezu Echtzeit stattfinden. Die Abfragezeit verringert sich von zwei Minuten auf wenige Sekunden.
Das Graphmodell schafft die Grundvoraussetzung für Boston Scientific, um das Qualitätsmanagement auszuweiten und zu optimieren. Dazu werden die Daten mit zusätzlichem Kontext angereichert und der Graph sukzessiv weiter ausgebaut.
- Risk-Score für fehlerhafte Komponenten: Mit den Graph-Algorithmen kann das Data Science-Team von Boston Scientific nicht nur Fehler analysieren, sondern auch Scores berechnen, die Knoten anhand ihrer Nähe zu Fehlern, Problemen oder Ausfällen einstufen. Dazu wird unter anderem die Anzahl der Sprünge (Hops) von einem Knoten zum anderen sowie die Anzahl der Kanten aggregiert. Der Risikowert wird dem jeweiligen Knoten als sogenannte Eigenschaft (Property) zugewiesen und fließt bei zukünftigen Analysen automatisch in die Berechnung mit ein (Bild 2).
Das einfache Knoten-Kanten-Prinzip ermöglicht es, gewonnene Erkenntnisse dem Modell hinzuzufügen. So entsteht ein Datenkontext, um maschinelles Lernen zu trainieren und die Graphen werden mit jeder durchlaufenden Analyse smarter.
- Transfer auf verschiedenen Produktlinien: Bei High-Tech Produkten handelt es sich in der Regel um High-Volume Produkte. Sie setzen sich aus vielen Bauteilen und Subkomponenten zusammen. Die Fehleranalyse einer Produktlinie gibt damit nicht nur Aufschluss über ein bestimmtes Produkt, sondern über Komponenten und Subkomponenten, die in anderen Produktlinien eingesetzt werden.
Die starke vertikale Integration bei Boston Scientific bewirkt, dass bestimmte Rohmaterialien und im Upstream angesiedelte Komponenten in anderen Anwendungen verbaut werden. Erst wenn die Visualisierung im Graphen ganzheitlich erfolgt, lassen sich solche Zusammenhänge aufdecken (Bild 3).
- Transparentes Supply Chain Mapping: In einem nächsten Schritt plant Boston Scientific, den Graphen mit Daten aus der Supply Chain anzureichern, einschließlich Informationen von Zulieferern und Standortdaten (Bild 4). Damit gewinnt der Graph eine weitere Dimension und kann im Rahmen der Traceability wichtige Informationen bereitstellen.
Stellt sich beispielsweise bei der Qualitätssicherung eine Baugruppe als fehlerhaft heraus, lässt sich nicht nur die verantwortliche Komponente bestimmen, sondern auch ihr Lieferant. Auf dieser Basis lassen sich weitere Analysen anstellen. Zum Beispiel in welcher Häufigkeit oder Regelmäßigkeit ähnliche Fehler auftreten und ob eine neue Evaluierung des Zulieferers nötig ist. Bei der zunehmenden Komplexität von Lieferketten ist diese Transparenz über mehrere Ebenen hinweg entscheidend, um Ausfälle auf ein Minimum zu reduzieren und die Lieferkontinuität aufrecht zu halten.
Die Graphtechnologie unterstützt beim auswerten von Daten
Das Potenzial für Graphtechnologie ist noch lange nicht ausgeschöpft. So spielt das Data-Science-Team von Boston Scientific mit dem Gedanken, textbasierte Fehlerberichte via NLP (Natural Language Processing) in den Graphen einzulesen und damit einen wichtigen Schritt in Richtung Predictive Analytics zu gehen. Die eine Anwendung für Graphtechnologie in der Fertigungsindustrie gibt es nicht.
Die Einsatzszenarien finden sich entlang des ganzen Produktlebenszyklus – im Design und Development, in der Produktionsplanung, dem Produktdatenmanagement, beim Predictive Maintenance sowie in der Logistik und der Supply Chain. Graphtechnologie ermöglicht es Herstellern, die wachsende Menge an Produkt-, Prozess- und Fertigungsdaten tatsächlich zu nutzen, statt nur zu sammeln, und schafft damit die Ausgangsbasis für smarte Tools auf dem Weg zur digitalen Transformation und Smart Factory.
* Dirk Möller ist Area Director of Sales CEMEA bei Neo4j. Er ist seit über 20 Jahren in der IT-Branche unterwegs. Seine Stationen waren leitende Positionen bei Symantec, MongoDB und Couchbase. Als Area Director of Sales CEMEA bei Neo4j unterstützt er mit neuen Datenbank-Anwendungen, um einen Mehrwert aus den Daten zu gewinnen.
(ID:47945314)