Industrie 5.0: Die Verbindung von smarter Robotik mit menschlicher Kreativität
Automatisierung und Optimierung sind über die Jahre immer wichtiger geworden, und die Einbindung der Menschen erscheint zunehmend bedroht. Doch in einer Welt in der der Bedarf an individuellen, personalisierten Produkten stetig wächst, steht nicht länger die Roboter-gesteuerte Massenfertigung im Mittelpunkt, sondern die menschliche Kreativität.
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In den letzten 300 Jahren hat sich die Industrie mit atemberaubendem Tempo entwickelt. Alles begann im 18. Jahrhundert, als die traditionell ländliche Gesellschaft in Europa und Amerika den Prozess der Urbanisierung durchliefen und die Eisen- und Textilindustrien nach der Erfindung der Dampfmaschine eine Blütezeit erlebten. Unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg entstanden mit der Ölförderung und der Stahlerzeugung wieder neue Industriezweige, und die Elektrifizierung erlaubte uns den Start der Massenfertigung. Das war der Beginn von „Industrie 2.0“. Seitdem hat sich die technische Entwicklung sogar noch beschleunigt. In den 70er Jahren sahen wir den Beginn des Zeitalters von „Industrie 3.0“ – mit digitaler Technologie, der Automatisierung industrieller Prozesse und der Einführung von Robotern.
Und heute sehen wir die Frühzeit von „Industrie 4.0“, größtenteils auf Basis des revolutionären Internet of Things (IoT): Alle möglichen Systeme – einschließlich der Roboter – sind im Internet verbunden und erzeugen einen kontinuierlichen Strom von Daten. Daten, die sich nutzen lassen, um größere Einsichten in industrielle Prozess zu gewinnen und die laufende Optimierung dieser Prozesse zu unterstützen.
Von der Dampfmaschine zum Internet of Things
Die Industrie hat sich in den letzten 300 Jahren mit atemberaubendem Tempo entwickelt. Eindrucksvoll, nicht wahr? Natürlich ist hier ein warnender Hinweis angebracht. Automatisierung und Optimierung sind über die Jahre hinweg immer wichtiger geworden, und die Einbindung der Menschen erscheint zunehmend bedroht.
Doch es ist gerade dieses Szenario, das mit dem Aufkommen von Industrie 5.0 zu Ende gehen wird. In einer Welt, in der Jede(r) nach individuellen Ausdrucksformen sucht, entsteht ein wachsender Bedarf an einzigartigen, maßgeschneiderten und personalisierten Produkten. In einer solchen Ära steht nicht länger die Roboter-gesteuerte Massenfertigung im Mittelpunkt, sondern die menschliche Kreativität.
Also muss in den smarten Fabriken von 2035 ein neues Modell der Kollaboration eingeführt werden. Eine enge, beinahe familiäre Verbindung von Mensch und Maschine - wobei die Roboter die schweren mechanischen Arbeiten erledigen, und ihre menschlichen Kollegen als kreative Architekten fungieren: sie erfinden neue kundenspezifische Produkte und überwachen in den Fabriken von morgen deren Produktion.
Die Frage ist: Wie kann man in einer solchen Umgebung eine produktive Partnerschaft zwischen Mensch und Maschine etablieren? Wie gestaltet man die optimale Teilung der Aufgaben, so dass sich aus 1 + 1 effektiv 3 ergibt? Das wird davon abhängen, wie effektiv die Kommunikation zwischen den unterschiedlichen Parteien ist.
Digitale Zwillinge für unsere Smart Factories?
Damit „Industry 5.0“ eine reale Chance zum Erfolg hat, ist es von kritischer Bedeutung, die Kommunikation zwischen den unterschiedlichen Akteuren (Menschen und Maschinen) weiter zu entwickeln.
Natürlich kommunizieren die Maschinen bereits heute miteinander. In großen Autowerken sorgen Integratoren mit Unterstützung durch standardisierte Protokolle dafür, dass die Maschinen (oft von unterschiedlichen Lieferanten) genug über einander „wissen“, um die vorgegebenen Produktionsziele zu erreichen. Doch ehrlich gesagt verrichtet in den heutigen Fabriken jede einzelne Maschine nur ihr eigenes Teilstück der Montagelinie. Und das erfordert recht wenig wirkliche Kommunikation.
In Zukunft, wenn die Maschinen autonomer werden und sich gegenseitig erkennen und antizipieren müssen, dürfte auch ihre Kommunikation schwieriger werden.
Ein Beispiel: Zwei Roboter begegnen sich in der Werkshalle. Wie kann in dieser Situation der eine Roboter antizipieren, in welcher Richtung sich der andere bewegen wird: „Fährt er nach links oder rechts? Also, was sollte ich jetzt tun…?“ Und alles das, bevor die Positionen, Aktionen und Reaktionen weiterer, in der Nähe befindlicher Roboter einbezogen werden.
Um derartige Situationen zu meistern, könnte man eine digitale Kopie (Twin oder Zwilling) der Fabrik in der Cloud anlegen. Dabei erstellt man ein digitales Modell der physischen Werkhalle, das sich kontinuierlich auf der Basis von Echtzeit-Sensordaten selbst aktualisiert. Ein Modell, in dem alle Entscheidungen (und deren Ergebnisse) in Echtzeit simuliert werden. In diesem Szenario wird die gesamte Aufsichtsbefugnis an einer zentralen Stelle gehostet. Von ihr kommen alle Instruktionen. Die Roboter und Maschinen in der Werkhalle sind somit die physikalische Entsprechung dessen, was in der virtuellen Welt geschieht.
Auf den ersten Blick erscheint dieses „diktatorische Modell“ als ideale Lösung für den Umgang mit den komplexen Situationen der Werkhalle. Es stellt sicher, dass die Produktionsziele erreicht werden. Technisch ist ein derartiges Szenario bereits komplett machbar: Die einzigen Voraussetzungen dazu sind schnelle Datenverbindungen zwischen den physischen Maschinen in der Produktion und dem „virtuellen Gehirn“, mit einer gehörigen Menge an Verarbeitungskapazität.
Allerdings gibt es hier zwei wichtige Vorbehalte. Der erste ist rein ökonomischer Art. Denn man sollte nicht vergessen, dass industrielle Umgebungen oft komplizierte und wettbewerbsorientierte Orte sind, an denen viele Akteure (Lieferanten und Partner – und manchmal auch Wettbewerber) kollaborieren. In einem derartigen Kontext sind der Schutz von Daten und die Vertraulichkeit von Informationen enorm wichtig. Doch das passt nicht in das Szenario des „Diktator-Modells“, in dem das zentrale Gehirn Zugriff auf alle mögliche Arten von Daten (einschließlich wettbewerbssensitiver Daten) haben muss, um seine Aufgaben angemessen zu erfüllen. Für viele Unternehmensführer ist der Gedanke, solche Daten mit anderen zu teilen, der schlimmste Alptraum.
Sollten wir die digitalen Zwillinge der Fabrik in der Cloud verlegen, um eine zuverlässige Kommunikation zwischen Menschen und Maschinen zu etablieren? Obwohl das „Diktator-Modell“ eine ideale Lösung für die komplexen Situationen in der Werkhalle zu sein scheint, gibt es zwei Vorbehalte: Die Wettbewerber, die in derselben Fabrik zusammenarbeiten, wollen keine Daten teilen. Und ein menschlicher Mitarbeiter muss in der Lage sein, zu intervenieren.
Und der zweite Vorbehalt? Die menschliche Unberechenbarkeit. Auch wenn wir eine Fabrik betreiben können, in der die kommerziellen Interessen nur einer Partei involviert sind, zerfällt das zentral gesteuerte Szenario, sobald eine Person in der Werkhalle umhergeht, als Person mit eigener Autonomie und Autorität. Man stelle sich vor, dass der menschliche Mitarbeiter (als „kreativer Architekt“, wie wir ihn weiter oben bezeichnet haben) bemerkt, dass ein Roboter etwas Falsches tut, und sich daraufhin einmischt, um diesen Fehler zu korrigieren. In diesem Augenblick würde das gesamte System zum Stillstand kommen, da das virtuelle Gehirn seine gesamte Kontrolle verlieren würde.
Also ist dieses Modell nur in industriellen Umgebungen brauchbar, die auf die Fertigung von Massengütern ausgerichtet sind, und solchen, in denen die Rolle des Menschen minimal ist (oder – in der Langzeitperspektive – vielleicht überhaupt nicht vorgesehen ist).
Eine neue Form der Künstlichen Intelligenz
Mit anderen Worten: Wann immer Menschen und Maschinen zusammenarbeiten müssen, brauchen wir unterschiedliche Verfahren, um mit der menschlichen Unberechenbarkeit umzugehen, und um sicher zu stellen dass die Roboter in der Lage sind, dies zu antizipieren.
Ein besonders viel versprechendes Prinzip ist hier das der „komplexen Schlussfolgerung“. Das ist eine neue Form von Künstlicher Intelligenz, die eingesetzt werden kann, um Maschinen beizubringen, wie sie autonom Schlussfolgerungen ziehen und die Aktionen anderer Objekte oder Menschen antizipieren. Doch bis dahin ist es noch ein weiter Weg, bevor wir das Prinzip der komplexen Schlussfolgerung praktisch einsetzen können.
Denn die Künstliche Intelligenz, wie wir sie heute kennen, basiert auf Deep Learning – einer sehr leistungsfähigen Technologie zur Erkennung von Mustern in riesigen Datensätzen. Inzwischen haben wir diese Technologie gemeistert. Also besteht das Ziel nun darin, den nächsten Schritt zu tun: dass die Maschinen sich selbst die Frage stellen: „Wie werden meine Aktionen die Aktionen von Menschen in meiner Umgebung beeinflussen?“
Um diese Situation noch komplizierter zu machen, müssen wir eine weitere Betrachtung in die Gleichung einführen: In einer industriellen Umgebung ist die wichtigste Forderung die der Transparenz (um sicherzustellen, dass die vorgegebenen Produktionsziele erreichbar sind). Doch Deep Learning ist in Wirklichkeit das genaue Gegenteil davon: nämlich eine „Blackbox“. Man trainiert das System auf die Erkennung von Mustern, doch man verliert die Kontrolle darüber, auf welchem Weg das System zu seinen Schlussfolgerungen kommt.
Somit besteht eine zusätzliche Forderung an die komplexe Argumentation darin, dass sie hinreichend transparent (oder erklärbar) ist, damit die Menschen sie akzeptieren. Das heißt, dass wir in der Zukunft über „erklärbare AI“ sprechen werden.
Lebenslanges Lernen: auch für Roboter
Im Anlauf auf 2035 wird sich die komplexe Schlussfolgerung zu einem neuen strategischen Forschungszweig entwickeln. Global organisierte Teams werden untersuchen, auf welche Weise die dazu grundlegenden Algorithmen entwickelt, implementiert und optimiert werden müssen.
Darüber hinaus werden wir mit dem Problem konfrontiert werden, wie die Maschinen ihre Reaktionen kontinuierlich verbessern und Wege zur Antizipierung von Aktionen entwickeln können. Das bedeutet, dass neue Belohnungs- und Anreizsysteme entwickelt werden müssen, die auf impliziten und expliziten Feedback-Signalen basieren.
Man kann darauf wetten, dass in Zukunft das Konzept des lebenslangen Lernens nicht mehr nur für die Menschen gilt, sondern auch für die Maschinen
Wie trägt imec zu dieser Zukunft bei?
Imec hat eine führende Position in einigen der Technologiefelder, die die Entwicklung smarter Industrien vorantreiben – von der Erforschung intelligenter Logistik und dem Internet of Things bis zur Mensch-Maschine-Interaktion, der Erschließung von Big Data, der Schaffung von Sensorsystemen für industrielle Applikationen, Imaging-Technologien und vielen anderen mehr.
Folgende Fragestellungen versuchen unsere Forscher zu beantworten:
- Wie können wir Unternehmen helfen, ihre Betriebskosten zu senken (etwa die Produktionszeit und den Energieverbrauch) – und sie bei der Lösung komplexer und langwieriger logistischer Probleme durch den Einsatz intelligenter Algorithmen unterstützen?
- Wie können wir die Vorteile der holografischen 3D-Technologie oder smarter Vision-Systeme auf Feldern wie Smart Entertainment und Smart Manufacturing realisieren?
- Wie können wir optimal – und sicher – die Mensch-Maschine Interaktion an die Produktionsumgebungen anpassen?
- Wie können wir Sensoren, Aktuatoren und elektronische Systeme auf kleinen Chips mit extrem geringem Leistungsverbrauch kombinieren, die kontinuierlich Daten über Produktionsprozesse, Speicherung und Lagerverwaltung erfassen?
- Wie können Low-Cost-Chips für Identifizierung, Tracking und Sensing in Plastikfolien integriert werden, die dünner sind als Papier?
- Wie können wir die massiven Mengen an nicht strukturierten Daten, die in Sensor-Netzwerken anfallen, in nutzbares Wissen verwandeln, das Unternehmen effektiver macht?
Originalveröffentlichung im imec Magazine Januar 2019 unter dem Titel: Man and machine collaborating on the factory floor: a nightmare or a match made in heaven?
* Pieter Simoens ist Professor an der Universität Gent und Mitarbeiter von imec. Sein Spezialgebiet sind die Systeme der Künstlichen Intelligenz.
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