Agilität in der Elektronikentwicklung Die Blackbox öffnen: Professionell die Arbeitslast gestalten
Anbieter zum Thema
Arbeit wird weitgehend nur geplant, die Arbeitsabläufe dahinter sind meist eine Black Box. Beides muss gleichwertig behandelt werden. Das optimale Produkt entsteht durch das Öffnen der Blackbox und damit einer systemischen Darstellung und Verbesserung der Arbeitsabläufe.

In der Ausgabe EP 10 ging es im Interview darum, dass sich Elektronikentwickler darauf konzentrieren sollten, zu liefern, also mit einem Produkt fertig zu werden, anstatt möglichst viel gleichzeitig zu tun: „Stop starting, start finishing!“ So werden Teams und Arbeitssysteme optimal ausgelastet, Konflikte vermieden und das Unternehmen stärkt seine Wettbewerbsfähigkeit. Aber wie erreicht man das?
Stellen Sie sich Baumstämme vor, die auf einem Fluss zum Sägewerk treiben (Flow). Erst wenn sie dort ankommen, entsteht Value. Sicherlich wird mehr als ein Baumstamm gleichzeitig auf die Reise geschickt, aber wenn es zu viele werden, verstopfen sie den Flusslauf. Es ist sinnvoll, die WIP (work in progress), in diesem Fall die Anzahl der Baumstämme, zu begrenzen, um den Durchsatz zu maximieren. Denn wenn die Baumstämme regelmäßig von Hand bewegt werden müssen, entsteht Waste.
Etwas verallgemeinert: Value bezieht sich auf das Ankommen, den Kundennutzen oder auch den Zeitpunkt, in dem Arbeit das System verlässt und abgerechnet werden kann. Flow ist der Fluss der Arbeit durch das System. Waste summiert alles auf, was nicht optimal läuft – Wartezeiten, Übergaben, Taskwechsel und Bottlenecks. WIP schließlich ist die Anzahl an gleichzeitigen Tätigkeiten pro Station.
Diese Stellgrößen bestimmen die Güte des Arbeitssystems. Darunter versteht man alle Arbeitsabläufe und ihr Zusammenwirken zur Entwicklung eines Produkts: Value maximieren und die WIP so limitieren, dass der Flow erhalten bleibt und dabei Waste minimiert wird. Leider lassen sich die wenigsten Arbeitssysteme so einfach überblicken. Wie übertragen wir das in die Praxis?
Warum es ein ausgeprägtes Problembewusstsein braucht
Nur in seltenen Fällen ist eine klare Sicht auf diese Steuergrößen möglich. Je größer und komplexer die Arbeitsprozesse sind und je mehr Menschen daran beteiligt sind, desto weniger kann der Flow beobachtet werden. Wahrnehmbar sind jedoch die Symptome, die auftreten können: das Gefühl der Überlastung, die Anhäufung von Teilergebnissen, Konflikte, Resignation oder Bottlenecks. Dies sind wichtige Anzeichen für Veränderungsbedarf.
Wir alle machen im täglichen Arbeitsablauf solche Beobachtungen. Echtes Problembewusstsein entsteht allerdings erst dann, wenn darüber geredet wird, mehrere Symptome zu einer Diagnose zusammenkommen und dann noch der gemeinschaftliche Wunsch entsteht, etwas zu ändern. Die Gelegenheiten im Arbeitsalltag, in denen solche Absichten entstehen, sind aber in der Regel sehr selten. Oder in welchem Meeting ist dafür Platz?
Ohne Problembewusstsein und den Wunsch, bestehende Probleme zu lösen, verlaufen viele Initiativen im Sand. Gehen wir für heute davon aus, dass ein Problem erkannt wurde und sich eine Gruppe von Menschen darum kümmern will, es zu beheben.
Transparenz erzeugen: Arbeitsabläufe und Potenziale werden sichtbar
Zwischen dem Erkennen eines Problems und der Ursachenforschung liegt allerdings etwas Arbeit: Der Arbeitsfluss muss transparent gestaltet werden. Dafür bietet sich Kanban an (Bild 1). Mit dieser Methode werden Arbeitsabläufe und Potenziale sichtbar. Sie ist non-invasiv und kann deshalb begleitend zu aktuellen Arbeitsabläufen eingeführt werden, ohne gleich die Organisation auf den Kopf zu stellen. Das ist für viele risikobewusste Manager beruhigend zu wissen.
Betrachten wir das komplexere Beispiel Chipentwicklung. Es sind viele verschiedene Skills erforderlich und die Entwicklung erfolgt in mehreren Phasen. Zeiten mit geistiger Entwicklungsarbeit wechseln sich mit der Hardwareproduktion ab oder überlagern sich.
Gehen wir vereinfachend von folgenden Phasen in der Chipentwicklung aus: Anforderungen erfassen, Spezifikation, Design, Vorserienproduktion, Verifikation, Massenfertigung. Ein einzelnes dieser Entwicklungsvorhaben ist schon komplex und die Entwicklungszeit beträgt bis zu fünf Jahre.
Nehmen wir weiter an, dass mehrere Chips parallel entwickelt werden. Die Experten können aber nicht exklusiv auf die einzelnen Entwicklungsstränge verteilt werden, sondern betreuen mehrere dieser Projekte. Sie sind multiplen Teams zugeordnet und haben somit mehrere Themen gleichzeitig auf ihren Schultern.
Es kommt auf die richtige Flughöhe an
Es ist allen Beteiligten bis hin zum Management klar, dass in der angesprochenen Situation Waste entsteht. Aber wir können das nicht genau beobachten, es ist eine Black Box. Wie können wir sichtbar werden lassen, was in ihr passiert?
Klaus Leopold hat hier mit seinem Flight-Levels-Ansatz ein gutes Denkmodell geschaffen (Bild 2): Jede Organisation hat drei Ebenen oder auch drei Ereignishorizonte, mit denen man die Arbeit aus unterschiedlichen Flughöhen betrachten kann. Das wollen wir in unserem Beispiel anwenden.
Auf der untersten Ebene 1, der operativen Teamebene, befinden sich unsere Teams. Über Scrum, Kanban oder individuelle Lösungen gelangen die Arbeitspakete zum Mitarbeiter. Beispielsweise könnten die Testingenieure der Verifikation zu einem Team zusammengefasst werden. Auf dieser Ebene wird durch die Visualisierung aller Arbeiten des Teams deutlich, wie viele verschiedene Themen das Team bearbeitet.
Ebene 2, die mittlere Koordinationsebene, visualisiert die Wertschöpfungskette und zeigt, welche Teams gemeinsam an gleichen Produkten arbeiten. In unserem Beispiel sind in einem Kanban-Board alle momentan laufenden Chip-Entwicklungsprojekte und ihr derzeitiger Status sichtbar. Der Fluss der Arbeit ist beobachtbar, denn alle Projekte fließen im Board von links nach rechts durch den Prozess. Sie sind untereinander priorisiert und alle Aktivitäten auf der operativen Ebene sind damit verknüpft. So ist ersichtlich, welche Teams gemeinsam an welchen Projekten und Teilergebnissen arbeiten.
Auf der übergeordneten Ebene 3, der Strategieebene, findet sich die Unternehmensstrategie mit den angestrebten strategischen Zielen wieder. Die Projekte der Koordinationsebene sind mit diesen verknüpft, so dass das Management sicherstellen kann, dass die operative Ebene genau auf die obersten Prioritäten ausgerichtet werden kann. Die Priorisierung setzt sich auf allen Ebenen von oben nach unten durch.
Die Blackbox öffnen und die Arbeit managen
In den meisten Unternehmen ist die Strategie- und Teamebene gut bekannt. Leider wird meist nur gemanagt, was zu tun ist. Das Managen des Arbeitsflusses auf der Koordinationsebene, also wie gearbeitet werden soll, wird vernachlässigt. Das führt zu der bereits erwähnten Blackbox auf der Koordinationsebene: die graue Masse, die Teams und Silos miteinander verbindet. In der Transparenz dieser Blackbox liegt die Chance.
Zunächst ist es wichtig zu definieren, was das Optimierungsziel ist: Mit möglichst wenig Waste und gebundenen Ressourcen möglichst viel Value zu generieren. Oder anders ausgedrückt: Möglichst viel auf der rechten Seite des Board ankommen zu lassen und gleichzeitig sich gegenseitig behindernde Tätigkeiten zu vermeiden. Auf dem Kanbanboard der Koordinationsebene wird das sichtbar, über Messgrößen wie Durchlaufzeit und Lieferhäufigkeit quantifizierbar und schließlich optimierbar.
Nur im Blackbox-Bereich liegen die für das Management attraktiven Optimierungen hinsichtlich der Senkung von Time to Market und Cost of Delay. Aber auch für die Teams und Mitarbeiter gibt es Schätze zu heben: Arbeit wird sichtbar und damit wertgeschätzt, das Optimum an gleichzeitiger Arbeit wird erkannt, was zu deutlich weniger Stress und Konflikten führt. Win-Win für alle.
Fabian Biebl – Keynote Speaker bei Power of Electronics
Fabian Biebl ist ein erfahrener Business Agility Coach und Organisationsentwickler. Seit über zehn Jahren begleitet er agile Transformationen in Konzernen und mittelständischen Unternehmen. Seine Kunden reichen von BMW, Allianz und Infineon bis hin zu Handwerksbetrieben.
Er unterstützt Unternehmen dabei, Arbeitsprozesse systemisch zu betrachten. Auf der Power of Electronics wird Fabian Biebl am Beispiel von zwei Personas, einem Entwickler und einer Managerin, einen Blick auf einen scheinbar ewigen Interessenkonflikt werfen.
Agile Interaktionen zur Zusammenarbeit bewusst konzipieren
Bisher haben wir die Situation auf verschiedenen Höhen transparent gemacht und Potenziale aufgezeigt. Durch die Auswahl von Optimierungszielen wurde ein Fokus geschaffen. Diese Informationen gilt es nun zu nutzen: Die agile, team- und projektübergreifende Zusammenarbeit der Experten in unserem Beispiel wird entlang der drei Ebenen organisiert. Auf jeder Ebene finden beispielsweise Meetings zur Planung und Priorisierung statt. Die Vertreter der unteren Ebenen nehmen diese Informationen dann mit in ihre Meetings.
Unsere Experten vereinbaren beispielsweise ein monatliches Planungstreffen auf Koordinationsebene, zu dem alle Beteiligten eingeladen werden. Ziel des Treffens ist es, dass sich alle Beteiligten noch während des Treffens auf eine Priorisierung einigen. Das ist etwas Neues. Meist ist gerade das Herausfinden des Wichtigsten völlig intransparent und geschieht hinter verschlossenen Türen in vielen Einzelgesprächen, in denen die Mächtigen ihren Einfluss geltend machen, um ihre Interessen durchzusetzen. Ein neues Treffen dafür wird gerne als Overhead abgetan, spart aber in Wirklichkeit unglaublich viel Abstimmungszeit und ermöglicht Zielorientierung: Lieber im Meeting die Köpfe zusammenstecken und Interessenkonflikte austragen, dafür aber am Ende eine klare Ansage an die operative Ebene machen können.
Nachdem alle Teamvertreter wissen, woran sie gleichzeitig und priorisiert arbeiten, gehen sie mit dieser Information in ihre Teams, um dort mit ihren Kollegen die Aktivitäten der nächsten Wochen zu planen. Ob dies mit Scrum, Kanban oder etwas anderem geschieht, bleibt den Teams überlassen. Die Empfehlung ist jedoch, einen gemeinsamen Rhythmus zu finden. Nach der Auswahl geeigneter Messgrößen werden diese kontinuierlich erfasst. Dies ist wichtig, bevor Änderungen in der Arbeitsweise vorgenommen werden. Warum? Weil in einem komplexen Umfeld die Auswirkungen einer Veränderung nicht vorhersehbar sind. Wie bei dem bereits erwähnten Regelkreis können nur Stellschrauben verändert und die Auswirkungen gemessen werden.
Work in Progress Limits und sonstige Verbesserungen
Endlich sind alle Voraussetzungen für Verbesserungen gegeben. Aber Achtung: Lassen Sie sich von den Erkenntnissen über Bottlenecks, über voll laufende Kanban-Spalten, über zu hohe Time to Market und Vermutungen über Waste nicht dazu verleiten, zu viel auf einmal zu ändern. Auch Agilität will agil, in kleinen Schritten, eingeführt werden.
Einer der größten Stellhebel für die Optimierung sind die angesprochenen WIP-Limits und die Einführung des Pull statt Push Prinzips: Von rechts nach links im Kanban Board ziehen sich die Experten neue Arbeit in ihr Team, wenn es das WIP-Limit erlaubt. Es darf ihnen nichts mit Druck untergeschoben werden, sondern sie ziehen, gemäß der Priorisierung, aktiv die neue Arbeit zu sich. Die WIP-Limits sind so zu wählen, dass der Gesamtdurchsatz am höchsten ist.
Erinnern Sie sich an den Fluss mit den Baumstämmen: Die Engstelle bestimmt den Gesamtdurchsatz. Mit den WIP-Limits verhindern wir erst einmal, dass alle anderen Teams mit voller Arbeit den Bottleneck weiter belasten. Und dort, beim Bottleneck, ist der Fokus der Verbesserungen zu setzen, nirgends sonst! Wie können andere aushelfen? Wie kann der Flow so verändert werden, dass der Bottleneck entlastet wird? Wie kann die Teamkomposition so angepasst werden, dass das Problem dort gelöst wird?
Und was tun mit den Experten, die temporär nichts zu tun haben, weil nach ihnen das Bottleneck voll ist? Finden Sie es heraus, aber folgen Sie nicht dem, was man meistens in dieser Situation tut: noch ein Projekt mehr anfangen, damit diese Leute etwas zu tun haben. Damit verlangsamen Sie nur alle anderen Projekte! Ihr Bauchgefühl wird Sie hier in die Irre führen. Und nur Transparenz und Messungen ermöglichen es, hier richtig und nicht instinktiv zu handeln.
Das Beispiel ist stark vereinfacht, sollte aber ausreichen, um ein Gefühl für die Blackbox zu vermitteln und den Wunsch zu wecken, sie zu öffnen: Transparenz, Fokus, Interaktion und Messung ermöglichen Verbesserung!
Lesen Sie außerdem zum Thema
:quality(80)/p7i.vogel.de/wcms/aa/03/aa03615da39bef98fb93a9e51fb4982c/0112403929.jpeg)
Agilität in der Elektronikentwicklung
„Die eigene Arbeitsauslastung wieder selbst steuern“
:quality(80)/p7i.vogel.de/wcms/33/e8/33e890c7c58d5cb1223b5974f20c91ee/0112001505.jpeg)
Kostenbalance und Organisationsentwicklung
„Unternehmen operieren irrtümlich in der CPU-Überlast“
* Fabian Biebl ist Business Agility Coach und Organisationsentwickler bei Colenet.
Artikelfiles und Artikellinks
(ID:49632505)