Kommentar – The Great Reset? Pat Gelsinger wieder bei Intel – Ein Hoffnungsschimmer?

Von Filipe Pereira Martins und Anna Kobylinska*

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Mit dem Amtsantritt von Patrick Gelsinger als CEO ist bei Intel endlich wieder ein Ingenieur am Ruder. Doch die Probleme des Chip-Giganten sitzen tief; sie werfen ihren dunklen Schatten auch auf andere Industrien jenseits der IT-Branche. Gelsinger, zuvor an der Unternehmensspitze bei VMware und EMC, bringt einen Hoffnungsschimmer.

Intels neuestes neuromorphisches System, „Pohoiki Springs“, vom März 2020, integriert 768 neuromorphische Chips „Loihi“, je maximal 32 pro jedem der 24 „Nahuku“-Boards, in einem 5U-Gehäuse.
Intels neuestes neuromorphisches System, „Pohoiki Springs“, vom März 2020, integriert 768 neuromorphische Chips „Loihi“, je maximal 32 pro jedem der 24 „Nahuku“-Boards, in einem 5U-Gehäuse.
(Bild: Intel Corporation)

Aktuelle Lieferengpässe der globalen Chip-Produktion machen es der Weltwirtschaft bei Halbleiterprodukten wie Mikrochips und Sensoren zu schaffen. Die deutsche Autoindustrie und verbundene Industriezweige sowie die Medizintechnik beklagen die unzureichende Versorgung mit elektronischen Teilen durch den akuten Mangel an Halbleiter-Modulen.

Peter Altmaier, Bundesminister für Wirtschaft und Energie, wandte sich auch schon im Januar in einem Brief an sein taiwanesisches Gegenüber, Wirtschaftsministerin Wang Mei-hua, mit der Bitte um Hilfe bei der Lösung der derzeitigen Versorgungsprobleme. In Taiwan ist nämlich der zentrale Lieferant der globalen Chipindustrie ansässig: die TSMC (Taiwan Semiconductor Manufacturing Company).

Das Unternehmen macht mit EMEA (Europe, Middle East and Africa) gerade einmal 6 Prozent seiner Netto-Umsätze. Nordamerika verschlingt 60 Prozent. TSMC, der größte Auftragshersteller von Halbleitertechnik, liefert aus der fernostasiatischen Insel direkt abseits der chinesischen Küste an Intels Nemesis AMD, NVIDIA, Apple und unzählige andere Elektronikhersteller, die sich in Anspielung auf das Wort „fabulous“ als „fabless“ auslegen, weil sie auf eigene Fertigungsstätten verzichten und ihre Chip-Produktion extern in Auftrag geben.

Knapp ein Monat nach dem Brief von Bundesminister Altmaier kamen in Taipei auch Unkenrufe aus der U.S.-Hauptstadt Washington an. In der ersten Woche der Amtszeit von Pat Gelsinger, wie es das Schicksal so wollte, ging bei Taiwans Wirtschaftsministerin ein Schriftstück aus dem Weißen Haus ein. Der oberste Wirtschaftsberater von US-Präsident Joe Biden dankte Wang für ihre Bemühungen, den Chip-Mangel zu beheben. Kaum war die sprichwörtliche Tinte darauf getrocknet, ließ China ein Dutzend seiner Kampfflugzeuge und Bomber das Südchinesische Meer an der umstrittenen Inselgruppe herumfliegen.

Auch das noch

Vor ein paar Jahren hätte es auch an Anruf in Santa Clara getan. Nicht mehr. Ohne TSMC bleiben ganze Industriezweige stehen.

Intels neuer CEO hat keine Zeit, beleidigt zu sein. Er muss die Ärmel hochkrempeln, um den stotternden 10-Nanometer-Prozess anzuschieben, und auch noch den 7-nm-Prozess schleunigst auf die Reihe zu bekommen. Weder als CEO bei VMware noch als Vorstandsvorsitzender bei EMC sah sich Gelsinger derart im Hintertreffen.

Die Startbedingungen für Pat Gelsinger als Chief Executive Officer sind nicht optimal.
Die Startbedingungen für Pat Gelsinger als Chief Executive Officer sind nicht optimal.
(Bild: Intel Corporation)

Inzwischen stellt die TSMC ihre eigene Produktion von 5nm auf 3nm um, dem eigenen Zeitplan voraus, hieß es am 19. Februar aus Taiwan. Die Testproduktion von 3nm-Chips der TSMC soll noch dieses Jahr in einer Wafer-Fabrik im Southern Taiwan Science Park in Tainan anlaufen; die kommerzielle Fertigung sei für die zweite Hälfte des Jahres 2022 geplant.

Die 3nm-Technologie von TSMC nutzt den 'Fin'-Field-Effekt-Transistor (FinFET). Die Logikdichte ist hier um satte 75 Prozent höher als bei dem 5nm-Prozesses, von dem Intel momentan nur träumen kann, und der Energieverbrauch um stattliche 30 Prozent geringer.

Noch kaum vorstellbar, aber ....

Die Folge: Für das einstige Kronjuwel der U.S.-amerikanischen Halbleitertechnik zeichnet sich am Horizont ein katastrophaler Verfall in die Bedeutungslosigkeit ab.

Nachdem die TSMC den 3nm-Prozess jetzt in trockenen Tüchern habe, möchte die Halbleiterschmiede bereits den anspruchsvolleren 2nm-Nanosheet-FET-Prozess in Angriff nehmen. Hier kommen GAA FETs zum Tragen, eine Technologie, die es Transistoren ermöglicht, die Größenbeschränkungen von FinFETs zu umgehen, wenn sie die 5nm- und 3nm-Ebene erreichen. Aus dem kalifornischen Santa Clara ist ein flüsterleises Seufzen wahrnehmbar: „Auch das noch...“

Im Geschäft mit Halbleitern gibt es keinen Platz für Nachzügler. „Nur die Paranoiden überleben“, bemerkte seinerzeit Intels legendärer CEO Andy Grove in Bezug auf die Industrie. In seine Fußstapfen an der Spitze der Chip-Schmiede tritt jetzt Patrick Gelsinger, ein Industrieveteran mit 40 Jahren Berufserfahrung, die ersten 30 davon bei Intel, und von Beruf Ingenieur der Halbleitertechnik. Ist er denn schon „paranoide“ genug?

Die Heimkehr eines Elektrotechnikers

Die Position des Intel-Geschäftsführers sei schon immer sein „Traumjob“ gewesen, enthüllte Gelsinger ganz unverblümt in seinem Abschieds-Memo an die Mitarbeiter von VMware. Seine Zeit bei dem Virtualisierungspionier und Cloud-Spezialisten sei „eine unglaubliche Reise“ gewesen, schrieb Gelsinger, eine Reise „des unvorstellbaren Lernens und persönlichen Wachstums“. Jetzt gehe es für den studierten Ingenieur „zurück [zu Intel] nach Hause“.

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Intel-CEO Pat Gelsinger: Die Position sein schon immer sein „Traumjob“ gewesen, schreibt er.
Intel-CEO Pat Gelsinger: Die Position sein schon immer sein „Traumjob“ gewesen, schreibt er.
(Bild: Intel Corporation)

Das ist offenbar noch nicht einmal übertrieben. Gelsinger begann seine glanzvolle Karriere bei Intel im zarten Alter von 18 Jahren und hat dort das Geschäft von der Pike auf gelernt – den Intel-Legenden Andy Grove, Robert Noyce und Gordon Moore „zu Füßen“, erinnert er sich gerne.

Als ein Intel-Veteran mit 30 jähriger Erfahrung möchte Gelsinger die Innovationskraft des Unternehmens neu entfachen. Hierzu hat er dem Chip-Riesen vier Prioritäten auf die Fahnen geschrieben:

  • technologische Führerschaft „in jeder Kategorie“, in der Intel in Wettbewerb trete;
  • „einwandfreie Erfüllung“ von Verpflichtungen mit aggressiver Zielsetzung strikt im Rahmen des Machbaren;
  • leidenschaftliche Innovationsfreude mit Mut und Schnelle;
  • eine lebendige, integrative und offene Unternehmenskultur.

Unter der Leitung von Gelsinger richtet Intel sein Augenmerk verstärkt auf domänenspezifische Architekturen (engl. Domain-Specific Architectures). Intel dürfte fortan versuchen, für jede Art von Workload ein eigenes heißes Eisen im Feuer zu halten; die Aufmerksamkeit verschiebt sich damit weg von dem ausschließlichen Fokus auf CPUs hin auf die vielen domänenspezifischen Chips, die GPUs, ASICs, FPGAs, neuromorphische Chips und dergleichen andere. Diese heterogenen Architekturen soll eine Softwareplattform unter einen Hut bringen.

Software und ein paar aufgewärmte Prinzipien

Intel hat hierzu das „One API“-Software-Toolset im Köcher. So kann Intel für Software-Entwickler die dringend benötigten Synergien schaffen.

Gelsinger ist es klar: Intel müsse den Bedürfnissen seiner Kunden stets einen Schritt voraus sein, in dem wettbewerbsintensiven Markt agiler werden und den differenzierten Wert der eigenen Produkte, Roadmap und Fertigungskapazitäten unter Beweis stellen. Die Kunden müssten sich auf die Zusagen aus Santa Clara, was die Produkte und Zukunftsstrategien betreffe, ohne Wenn und Aber verlassen können.

Letzteres war unter der Führung seines Vorgängers bekannterweise nicht der Fall gewesen. Um die Marktanteile und die Marktführerschaft zurückzugewinnen, müsse sich Intel ambitionierte und dennoch realistische Ziele setzen und diesen niemals auf Kosten der Qualität nacheifern, schrieb Gelsinger in dem internen Memo an Intels Belegschaft.

Intel-CEO Pat Gelsinger vor der Intel-Firmenzentrale
Intel-CEO Pat Gelsinger vor der Intel-Firmenzentrale
(Bild: Intel Corporation)

Aus seiner Sicht sei es außerdem wichtig, „das unübertroffene geistige Eigentum, Ingenieurstalent und Forschung im Bereich neuer Computerarchitekturen der nächsten Generation“ zu einer Quelle für kontinuierliche Innovationen in der Branche zu entwickeln. Das Unternehmen müsse hierzu mit seiner Unternehmenskultur „die besten Ingenieur(e)/innen und Technolog(en)/innen der Welt anziehen und motivieren“, glaubt Gelsinger. Es sei zu guter Letzt auch notwendig, einige der Management-Innovationen von Andy Grove für direkte, transparente und datengesteuerte Entscheidungen und Verantwortlichkeit wieder zurückzubringen.

„Only the paranoid survive...“

Gelsingers Vorgänger Bob Swan, zuvor Cief Financial Officer bei Intel, hatte für den technologischen Unterbau des Geschäftsmodells nicht viel übrig und brachte mit seiner Erbsenzählermentalität die Chip-Schmiede wiederholt in Bedrängnis. Unter der Führung von Swan mag Intel die Finanzzahlen börsenfreundlich aufpoliert haben, hat aber zugleich auch in vielerlei Hinsicht den Anschluss verpasst.

Im Markt für Datencenter-Chips hat Intel beachtliche Marktanteile an AMD verloren und sieht sich durch das Aufkommen von ARM-basierten Chips von Anbietern wie Ampere zusätzlich noch herausgefordert.

24 „Nahuku“-Boards (hier drei davon zusammengeschaltet im Close-up) belegen zu je drei pro Reihe acht von neun Reihen im Gehäuse; in dem neunten Steckplatz des Prototypen hat „Intel Arria10“ FPGA-Boards verbaut.
24 „Nahuku“-Boards (hier drei davon zusammengeschaltet im Close-up) belegen zu je drei pro Reihe acht von neun Reihen im Gehäuse; in dem neunten Steckplatz des Prototypen hat „Intel Arria10“ FPGA-Boards verbaut.
(Bild: Intel Corporation)

Dennoch sei Intel im Rechenzentrumsmarkt nach wie vor „sehr gut aufgestellt“, glauben Analysten wie Baron Fung von Dell'Oro Group. AMD mag zwar Marktanteile gewonnen und Intels Preise unter Druck gesetzt haben. Doch mit jeder neuen Chip-Generation würden die Karten neu aufgemischt und Intel könne das verlorene Terrain wieder zurückerobern.

Konkret müsste Gelsinger die Produktion von „Ice Lake Xeon Scalable“ in 10nm nach wiederholten Fehlschlägen endlich auf Hochtouren bringen, glaubt Fung. Ice Lake Xeon Scalable ist die Intel-Antwort auf die dritte Generation der„Epyc“ Datencenter-Chips von AMD, die im laufenden Quartal (Q1/2021) auf den Markt kommen soll.

Aktivieren der Veteranen

Die wiederholte Vernachlässigung Intels Kernkompetenzen durch Gelsingers Vorgänger ging mit der Auslagerung der Halbleiterfertigung an den Erzrivalen der kalifornischen Chip-Schmiede, nämlich die taiwanesische TSMC, einher. Diese Fehlentscheidung liegt der Weltwirtschaft gerade schwer im Magen. Der drückende Chip-Mangel geht ja auch an der deutschen Autoindustrie nicht spurlos vorbei.

Pat Gelsinger hat sicherlich das Zeug dazu, Intel wieder zur Höchstform auflaufen zu lassen – vorbehaltlich unvorhergesehener Zwischenfälle; denn vor dem Hintergrund globaler Lieferengpässe, erbitterten Wettbewerbs und geopolitischer Instabilität segelt das Schwergewicht Intel unter dem neuen Kapitän auf absehbare Zeit ins Ungewisse, wenn auch bald Volldampf voraus. Gelsinger mag ein paar Reset-Knöpfe gefunden haben, aber ob er die noch alle hinreichend schnell drücken kann?

Fazit der Autoren

Pat Gelsinger folgen zu Intel drei Branchenveteranen: Intel Senior Fellow Glenn Hinton, Sunil Shenoy und Guido Appenzeller. Hinton möchte an einem aufregenden CPU-Projekt arbeiten und kommt dafür nach dreijähriger Kreativitätspause schwungvoll aus dem Ruhestand zurück. Shenoy, zuletzt Senior VP und General Manager von RISC-V bei SiFive (siehe dazu den Bericht „Was ist RISC-V?)“, übernimmt bei Intel die Leitung der Design Engineering Group. Appenzeller möchte der Entwicklung von Xeon CPUs, „Optane“-Speicher und FPGAs zu neuen Höhenflügen verleiten, und verlässt dafür Yubico, Anbieter der Hardware-Authentifizierungslösung Yubikey.

Konsolidierungen in der Chip-Industrie

Kurzfristig ist Intel darauf angewiesen, den 4nm-Produktionsprozess extern in Auftrag zu geben. Die überwiegende Mehrheit seiner 2023er Produkte will die kalifornische Chip-Schmiede laut Gelsinger in Eigenregie in 7nm fertigen.

Die Chip-Industrie durchläuft gerade eine massive Konsolidierung. Der Wert der Übernahmen im vergangenen Jahr hat die stolze 100-Milliarden-Dollar-Marke deutlich überschritten: Nvidia akquirierte ARM (40 Milliarden Dollar), AMD kaufte mal eben Xilinx (35 Milliarden Dollar, Maxim ging an Analog Devices (21 Milliarden Dollar) und Marvell hat sich Inphi einverleibt (ca. 10 Milliarden Dollar). Intel konnte sich seinerseits der dünnen Margen seiner NAND-Sparte durch den Verkauf an SK Hynix entledigen (9 Milliarden Dollar).

TSMC zeigt als der größte Halbleiter-Lieferant der Welt von dieser Konsolidierung gänzlich unbeeindruckt. Für den geplanten 2nm-Prozess baut das Unternehmen eine eigene Wafer-Fabrik in Hsinchu, einer taiwanesischen Stadt knapp über 200 Kilometer von der chinesischen Küste nord-östlich von Hong Kong. Wenn alles nach Plan läuft, dürfte die Anlage die Serienproduktion der Wafer bereits im Jahr 2024/2025 aufnehmen.

* Das Autoren-Duo Anna Kobylinska und Filipe Pereia Martins arbeitet für McKinley Denali Inc. (USA).

Dieser Beitrag erschien zuerst auf unserem Partnerportal Datacenter-Insider.de.

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