Trägheitsmessung: Bei einer inertialen Messeinheit kommt es auf die Firmware an
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Bei einer Trägheitsmesseinheit (IMU) sollten nicht nur die Datenblätter geprüft werden. Es kommt zudem auf eine leistungsfähige Firmware an, damit gemessene Sensordaten das Messergebnis nicht verzerren.

Auf den ersten Blick ist zwischen einem Standardmessmodul für Bewegungsmessung und einem Bewegungsmelder-Modul mit einer inertialen Messeinheit (IMU, Intertial Measurement Unit) kein Unterschied zu erkennen, denn die Grundfunktion einer Trägheitsmesseinheit ist immer gleich. Um die sechs kinematischen Freiheitsgrade zu erfassen, verfügt eine IMU über einen 3D-Beschleunigungsmesser, ein Gyroskop und ein Magnetometer, mit denen die Beschleunigung und Drehgeschwindigkeit gemessen werden. Außerdem lässt sich der Kurs bezogen auf den magnetischen Nord- oder Südpol auf der x-, y- und z-Achse bestimmen.
Um die genannten Funktionen zu implementieren, kommen oft Standard-Module für inertiale Messeinheiten zum Einsatz. Hier greifen die Hersteller auf Anbieter für Beschleunigungsmesser, Gyroskope und Magnetometer von Analog Devices, STMicroelectronics und NXP Semiconductors. Doch auch bei den Herstellern untereinander unterscheidet sich eine IMU auf der Hardwareebene. Faktoren wie das Layout der Leiterplatte, das Gehäuse, die Systemmontage und die Kalibrierung im Werk sind bei jedem Modulhersteller unterschiedlich und beeinflussen schließlich die Leistung des Moduls für die eigentliche Anwendung.
Einsatzbedingungen für eine IMU
Noch größere Unterschiede gibt es auf der Firmwareebene. Jeder Hersteller der inertialen Messeinheiten verarbeitet die rohen Sensorsignale für eine sinnvolle Messungen sehr unterschiedlich. Die gewonnenen Messdaten liefern Werte für die Beschleunigung, Geschwindigkeit, Neigung, Inklination und den Kurs. Speziellere Eigenschaften der Firmware, um die Algorithmen an verschiedene Betriebsbedingungen anzupassen, wirken sich auf die Stabilität, die Genauigkeit und die Auflösung der zu berechnenden Messdaten aus, um eine Bewegung zu verfolgen. Das wird im folgenden Text näher erläutert.
Der Markt für IMU-Module ist in den letzten zwei Jahrzehnten stetig gewachsen, denn die Gerätehersteller nutzen ganz unterschiedliche Einsatzszenarien für die Trägheitsmesseinheiten, um Bewegungen an Maschinen zu erkennen. Nach aktuellem Stand umfassen die Anwendungsgebiete einer IMU:
- Hochseeschiffe, mit ihren kontinuierlichen langsamen Bewegungen in allen drei Dimensionen,
- autonome Flurförderzeuge in Fabriken oder Lagerhäusern – schnelle Bewegungen und Richtungswechsel, vorübergehende magnetische Einflüsse durch andere Fahrzeuge oder Gegenstände in der Nähe,
- Roboter in der Landwirtschaft, wie Traktoren, Mähdrescher oder Sämaschinen – langsame, lineare Bewegungen mit nur geringen magnetischen Störungen, jedoch starke kinetische Störeinflüsse (Vibrationen) sowie
- Drohnen mit ihren hochdynamischen Bewegungen in drei Dimensionen sowie einer möglichen vorübergehenden magnetischen Beeinflussung.
In jeder der Anwendungen liefert eine IMU kontinuierlich Werte zur Lage, zum Kurs, zur Geschwindigkeit und zur Entfernung des Geräts zu einer bekannten Referenz. In der Praxis nutzen verschiedene Modulhersteller jedoch sehr unterschiedliche Ansätze, um die Firmware zu implementieren. Und hier liegt das Problem: Es kommt zu erheblichen Unterschieden bei den gemessenen Werten für Lage und Position.
Diese Abweichungen bei den ausgegebenen Messwerten sind weder proportional noch abhängig von der inhärenten Ungenauigkeit der eingesetzten Hardware durch Faktoren wie Rauschen und Drift. Anwender einer IMU informieren sich im Vorfeld in den Datenblättern der verschiedenen Module, um die Angaben zur Genauigkeit, zum Rauschen oder zur Drift zu vergleichen. Da jedoch ein bestimmtes IMU-Modul in einem gegebenen Preisbereich wahrscheinlich die gleichen oder ähnliche Beschleunigungsmesser, Gyroskope und Magnetometer wie das Modul eines Mitbewerbers der gleichen Preisklasse enthält, sind die Angaben in den Datenblättern zur Grundgenauigkeit und zur Drift weitgehend ähnlich. Abweichen können Faktoren wie bessere Werkskalibrierung und ein auf niedriges Rauschen optimiertes Leiterplattenlayout.
Genauigkeit und Drift im Datenblatt sind nicht alles
In allen Fällen sind die Werte für Drift und Genauigkeit bei den einzelnen Modulen inhärent und gelten in gleicher Weise bei allen Anwendungen. Allerdings unterscheiden sich die Einsatzgebiete einer IMU sehr stark. Misst die Sensorik die Bewegungen auf einem Schiff, bei einem Roboter, einer Landmaschine oder sogar bei einer Drohne. Für den Anwender ist nur eine Frage wichtig: Wie wird sich die IMU in der gewünschten Anwendung verhalten? Die Genauigkeits- und Driftwerte im Datenblatt liefern nur einen Teil der Antwort auf diese Frage.
Ausgehend von einer bekannten Referenzlage und -position kann eine IMU durch Koppelnavigation dynamische Kurs- und Positionssignale liefern, indem sie aus den rohen Ausgangssignalen der Beschleunigungsmesser und Gyroskope die Veränderungen der Winkelgeschwindigkeit (Δq) und der Beschleunigung (Δv) berechnet. Diese Messungen lassen sich verbessern, wenn sie zusätzlich mit einem Magnetometer im Modul auf den magnetischen Nord- oder Südpol bezogen werden.
Magnetische Eingangsgrößen vor Störung schützen
Verarbeitet die Anwendung magnetische Eingangsgrößen, werden die Messungen möglicherweise durch vorübergehende magnetische Störungen beeinträchtigt. Bei einem autonomen Fahrzeug könnte der Stahl eines auf der benachbarten Fahrspur einer Autobahn vorbeifahrenden LKW vorübergehend das Ausgangssignal des Magnetometers beeinflussen. Diese Störung endet, wenn das andere Fahrzeug weit genug entfernt ist.
Wenn keine Korrektur erfolgt, wandelt die einfache Firmware das Rohsignal des Magnetometers in eine Kursänderung um. Das erfolgt unabhängig davon, ob die Rohsignale tatsächlich durch das Magnetfeld der Erde oder eine kurzzeitige Störung erzeugt worden sind. Bei einem autonomen Fahrzeug treten häufig kurzzeitige magnetische Störungen auf. In Folge leidet das Positionierungssystem unter chronischer Instabilität. Die Kompensation einer solchen Instabilität in der Software des Host-Systems kann, je nach Konfiguration und Leistungsfähigkeit ihres Prozessors, schwierig bis unmöglich sein.
Der Hersteller Xsens bietet eine Lösung, welche die Auswirkungen einer magnetischen Störung verhindert. Dazu sind verschiedene Filterprofile verbaut, die für verschiedene typische Betriebsbedingungen optimiert sind. So kann der Systementwickler das Profil wählen, das für seine Anwendung am besten geeignet ist. Ist eine Anwendungen nie einer magnetischen Störung ausgesetzt, reagiert das Filterprofil dann dynamisch direkt auf alle Änderungen im Ausgangssignal des Magnetometers. Treten hingegen wiederholt kurzzeitige Störungen auf, kann eine Verzögerung von bis zu 30 s gewählt werden, bevor das System auf Änderungen im Ausgangssignal des Magnetometers anspricht.
Spezielle Filter für stabile Messwerte
Die IMU-Module der Serie MTi von Xsens bieten eine weitere Betriebsart: die aktive Kursstabilisierung. Hier werden die Kurswerte niemals auf das Magnetfeld bezogen. Ähnliche Profile sind auch für die Produkte der Serien MTi 10 und 100 verfügbar. Die Wirkung der Profile auf die Ausgabe einer IMU der Serie MTi 1 zeigt das Bild 1. Ausgehend von Daten eines bei Xsens ermittelten Tests ändert sich der Kurs der MTi IMU bei t = 560 s von 85° auf 140°. Gleichzeitig ändert sich das Magnetfeld von 85° auf 130°.
Die Ursache für die Abweichung bei der magnetischen Verzerrung war ein Gegenstand aus Eisen in der Nähe des Sensors. Verschiedene Filterprofile reagieren unterschiedlich auf die Verzerrung des Magnetfelds, was ebenfalls das Bild 1 zeigt. Alle Filter führen für eine kürzere oder längere Zeit eine Koppelnavigation durch. Das Filterprofil VRU_General beschränkt sich darauf, das Ausgangssignal des Gyroskops zu integrieren und wird durch die magnetische Verzerrung nicht beeinflusst.
Dank der Auslegung der IMU-Firmware werden die Auswirkungen kinetischer Störungen eliminiert. Ein Beispiel hierfür ist eine vorübergehende Vibration mit hoher Energie durch einen Aufprall, der die langsamen Roll-, Neigungs- und Drehbewegungen einer Boje überdeckt. Bei der Serie MTi berechnet ein spezieller Algorithmus (SDI, Strap-Down Integration) anhand der Ausgangswerte des 3D-Beschleunigungsmessers und des Gyroskops die integrierten Werte von ∆q von ∆v mit Kompensation der Fehler durch taumelnde und rudernde Bewegungen.
In der Signalverarbeitungskette werden die analogen Sensorsignale digitalisiert. Bei den Serien MTi 10 und 100 wird mit einer Abtastfrequenz von 2 kHz gewandelt. Anschließend gelangt das Signal durch ein Kalibrierungsfilter zum SDI-Algorithmus. Das Ausgangssignal wird auf die vom Anwender vorgegebene Ausgangsdatenrate (ODR) herunterrechnet. Die Werte liegen zwischen 1 Hz und 400 Hz. Das Verfahren zum Herunterrechnen gibt alle Informationen wieder, die in jedem Sample mit der vollen Abtastrate von 2 kHz erfasst wurden. Das erfolgt auch bei niedrigen Ausgangsdatenraten. Eine genaue Bewegungsmessung mit hoher Bandbreite bleibt auch dann erhalten, wenn der Entwickler eine niedrige Ausgangsdatenrate wählt.
Kinetische Störungen mit hoher Energie
Die Abtastfrequenz von 2 kHz sorgt dafür, dass kurzzeitige kinetische Störungen mit hoher Energie die Bewegungsmessung bei niedriger Ausgangsdatenrate nicht verzerren. Die MTi-300 stand ruhig auf einem Tisch und war für Ausgangsdatenraten von 400 Hz, 100 Hz, 10 Hz und 1 Hz konfiguriert. Mehrmals wurde mit der Hand gegen das Gehäuse der MTi geklopft. Die entstandene Beschleunigung der z-Achse zeigt Bild 2. Bei 400 Hz sieht man die entstandenen gedämpften Schwingungen. Im Signal mit 100 Hz ist die Intensität deutlich geringer.
In den Kurven für 10 Hz und 1 Hz sind die Vibrationen vom SDI-Algorithmus vollständig herausgefiltert. Im Gegensatz würden mit 10 Hz oder 1 Hz abgetastete Sensordaten klar die Auswirkungen der kinetischen Störungen durch das Klopfen zeigen.
Dieser Beitrag ist erschienen in der Fachzeitschrift ELEKTRONIKPRAXIS Ausgabe 10/2020 (Download PDF)
* Arnout Koelewijn ist Produktmanager bei Xsens in Enschede, Niederlande.
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