Spannungsfeld Taiwan: Wann reißt die Halbleiter-Lieferkette?
Die Gefahr, dass die Volksrepublik China Taiwan annektiert, war noch nie so groß wie derzeit. Eskaliert die Situation, hätte dies verheerende Folgen – auch für die Halbleiterfertigung und darauf angewiesene Industrien.

12. Februar 2021. Am ersten Tag des chinesischen Neujahrsfestes hissen Mitarbeiter über der Firmenzentrale der Taiwan Semiconductor Manufacturing Company (TSMC) in Hsinchu die rote Fahne der Volksrepublik China. In den USA war nach den Präsidentschaftswahlen am 3. November 2020 das innenpolitische Chaos ausgebrochen, der wichtigste Verbündete der Inselrepublik wurde handlungsunfähig. Die Kommunistische Partei (KP) Chinas überfiel Taiwan, nach nur drei Tagen musste sich die Regierung in Taipeh ergeben. Der größte Auftragsfertiger der Welt für Halbleiter, TSMC, ist nun ein chinesisches Staatsunternehmen.
Dieses Szenario beschrieben der ehemalige CIA-Direktor Michael Morell und James Winnefeld, US-Admiral im Ruhestand, im Sommer 2020 in Proceedings, dem Magazin des parteiunabhängigen Think Tanks U.S. Naval Institut. Wie wahrscheinlich ist es, dass solch ein Gedankenspiel Realität wird und welche Folgen hätte dies für die weltweiten Lieferketten der Halbleiterbranche?
China droht unverhohlen mit einem Überfall auf Taiwan
Die Kommunistische Partei Chinas hat in den vergangenen Jahren keinen Hehl daraus gemacht, dass sie Taiwan wieder mit dem Festland vereinigen wird. Präsident Xi Jinping hat versprochen, dass er (oder sein Nachfolger) die chinesische Nation bis zum 100. Jahrestag der Gründung der Volksrepublik im Jahr 2049 wieder zu der wirtschaftlichen und politischen Größe führen wird, die sie bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts hatte. Aus seiner Sicht geht das nicht ohne eine Vereinigung der Volksrepublik mit Taiwan.
Die rechtliche Grundlage für eine Annexion Taiwans hat Peking schon unter Xis Vorgänger, Hu Jintao, mit einem „Antisezessionsgesetz“ geschaffen. „Danach wäre eine Annexion gerechtfertigt, wenn sich Taiwan unabhängig erklärt oder die KP zu der Auffassung gelangt, dass sich eine Vereinigung friedlich nicht mehr herbeiführen lässt“, erklärt Professor Frédéric Krumbein, Taiwan-Experte an der Universität Tel Aviv.
In einer Rede Xis im Januar 2019 und in einem im Juli desselben Jahres veröffentlichten Weißbuch zur Verteidigungspolitik der Volksrepublik hat die KP zudem erklärt, sie werde Taiwan notfalls mit militärischen Mitteln mit dem Festland wiedervereinigen. Im laufenden Jahr hat die Volksbefreiungsarmee daher bereits wenigstens zehn Kampfübungen rund um Taiwan durchgeführt. Chinesische Jets haben dabei mehrmals taiwanesischen Luftraum verletzt.
Taiwans Zukunft hängt vom Beistand der USA ab
Steht die Welt also vor einem Krieg in Ostasien? „Wohl nicht“, beruhigt Krumbein. Noch berge eine militärische Eskalation zu viele Risiken für die Volksrepublik. Immerhin betrachten die Vereinigten Staaten seit dem Erlass des Taiwan Relations Act 1979 jeden Versuch, eine Entscheidung über die Zukunft der Insel anders als mit friedlichen Mitteln herbeizuführen, als Bedrohung des internationalen Friedens. „Würde China Taiwan angreifen ohne dass sich dieses unabhängig erklärt hat, stehen die Chancen gut, dass die USA dem Land militärisch beispringen“, erwartet Krumbein.
Sollte US-Präsident Donald Trump die Präsidentschaftswahlen Anfang November allerdings verlieren und die Niederlage nicht anerkennen, würde Unklarheit darüber herrschen, wer Oberbefehlshaber der Streitkräfte der Vereinigten Staaten ist. Die KP Chinas könnte diese Gelegenheit nutzen und Taiwan angreifen.
„Wir werden Taiwan irgendwann um 2021 herum befreien“
Sie würde damit Forderungen nach einer Annexion der Insel erfüllen, die in der Volksrepublik derzeit immer offener geäußert werden. So erklärte der Chef des Pekinger Modern Think-Tank Forums, Li Su, Anfang August, dass China Taiwan „irgendwann um 2021 herum befreien“ werde. Von der Äußerung des einflussreichen Hardliners berichteten die Washington Post und Der Spiegel.
„Auch als die USA Chinas Aushänge-Smartphonehersteller Huawei durch schärfere Exportkontrollmaßnahmen im Sommer vom Zugang zu US-amerikanischer Chiptechnologie abschnitten, gab es in chinesischen Medien zahlreiche Berichte, die eine Annexion Taiwans forderten, um so Zugriff auf TSMC zu bekommen“, ergänzt Jan-Peter Kleinhans, Programmdirektor „Technologie und Geopolitik“ und Autor einer soeben bei der Stiftung Neue Verantwortung (SNV) erschienenen Studie zu diesem Thema.
China ist auf die Fertigungstechnologie von TSMC angewiesen
Mit einem Weltmarktanteil von rund 55 Prozent ist TSMC der größte Auftragsfertiger der Halbleiterindustrie. Auch chinesische Unternehmen sind auf seine Fertigungstechnologie angewiesen. So sollte TSMC ursprünglich Chips für die 5G-Geräte von Huawei herstellen. Nachdem die USA verboten, dem Telekommunikationsausrüster Chips zu liefern, die auf Produktionsanlagen US-amerikanischer Hersteller gefertigt werden, musste TSMC die Belieferung seines bis dahin zweitgrößten Kunden jedoch im September 2020 einstellen. Die Taiwaner haben Maschinen im Einsatz, die unter die Sanktion fallen.
Chinesische Halbleiterwerke wie die Semiconductor Manufacturing International Corporation (SMIC) können diesen Ausfall nicht auffangen. Denn während TSMC Chips mit Nodes von sieben Nanometer und kleiner produzieren kann, beherrscht SMIC nur die 14-Nanometer-DUV-Technologie. Damit liegen die Chinesen in der technologischen Entwicklung etwa vier Jahre zurück. Zwar können sie Chips wie den Kirin 710A für Kunden wie Huawei produzieren - nicht aber solche der neuesten Generation.
Insgesamt können sie daher auch nur rund 15 Prozent der Halbleiternachfrage in der Volksrepublik bedienen, berichtet das auf die Halbleiterindustrie spezialisierte Marktforschungsunternehmen IC Insights. „All dies macht TSMC zu einem für die USA geopolitisch extrem wichtigen Unternehmen“, erklärt Kleinhans. Und zu einem der wichtigsten Hebel im Handels- und Technologiekonflikt mit der Volksrepublik. Diese könnte daher versucht sein, die Auseinandersetzung durch einen Überfall auf Taiwan in ihrem Sinne zu entscheiden, wenn die außenpolitischen Rahmenbedingungen dies ermöglichen.
Experten erwarten eine Eskalation in den kommenden ein bis zwei Jahren
Selbst wenn die Situation noch nicht so schnell eskaliert, erwarten Taiwan-Experten wie Ian Easton vom US-amerikanischen Think Tank Project 2049 in den kommenden ein bis zwei Jahren eine schwere Krise. Auch der ehemalige Chef der Aufklärung der US-Flotte im Pazifik, James Farnell, erklärte in einer Reportage der Deutschen Welle, dass die Gefahr eines militärischen Konflikts um Taiwan in den zehn Jahren bis 2030 größer sein wird als jemals zuvor oder danach.
Halbleiter-Lieferketten sind in Gefahr
Egal, wann die Situation eskaliert, durch einen Überfall auf Taiwan versänke Asien im Chaos. Die Sicherheit des Luftraums sowie der Schifffahrtsstraßen und damit der internationalen Transportwege wären gefährdet. „Zugleich würden die USA und die Europäische Union wohl Sanktionen gegen China verhängen, ähnlich wie es die EU nach der Annexion der Krim durch Russland getan hat“, erwartet Jürgen Matthes, Leiter des Kompetenzfelds Internationale Wirtschaftsordnung und Konjunktur am Institut der Deutschen Wirtschaft. Beides würde die Lieferketten der Halbleiter-, IT-, und Elektronikindustrie schwer stören - wenn auch nicht sofort. „Denn viele Kunden der Halbleiter- und Elektronikhersteller in Asien haben deren Vorprodukte auf Lager.“
„Außerdem würden Lieferungen, die sich bereits auf dem Weg nach Europa oder in die USA befänden, die Abnehmer dort wohl noch erreichen“, erklärt Lukas Gabriel Wiese, Referent für Außenwirtschaft und Internationale Beziehungen beim Digitalverband Bitkom.
Wenn diese Puffer aufgebraucht sind, hat die Unterbrechung der Lieferketten jedoch drastische Auswirkungen. Einerseits unterlägen die größten Hersteller von Elektronik- und PC-Komponenten, Notebooks, Konsolen, Servern und Autoelektronik wie Hon Hai Precision (Foxconn), Pegatron, Compal oder Wistron als taiwanische Unternehmen nach einer Annexion ihres Landes den gegen China verhängten Sanktionen. Als Zulieferer fielen sie somit aus.
US-Halbleiterunternehmen sind auf die Fertigung in Taiwan und Südkorea angewiesen
Zum anderen haben China und Taiwan laut der Unternehmensberatung McKinsey zusammen einen Anteil von 82 Prozent am globalen Markt für die Auftragsfertigung von Halbleitern. „Vor allem die Bedeutung, die TSMC für das globale Ökosystem der Halbleiterbranche hat, kann man eigentlich nicht überschätzen“, erklärt SNV-Experte Jan-Peter Kleinhans. „Die Kollateralschäden, die ein Ausfall des Unternehmens in anderen Branchen verursachen würde, ebenfalls nicht.“ Denn zumindest indirekt sind die Taiwaner Schlüssellieferant für Unternehmen aus einer Vielzahl von Bereichen.
Immerhin beherrscht neben TSMC nur Samsung Foundry in Südkorea die Fertigung von Chips mit winzigen 5-nm-Nodes. Deshalb lassen von Apple bis Xilinx fast alle US-amerikanischen Halbleiter-Unternehmen ohne eigene Produktionsstätten Chips bei den Taiwanern fertigen. Da sie selbst keinerlei Werke mehr betreiben, würden sie im Falle eines chinesischen Überfalls auf Taiwan von den dortigen Fertigungskapazitäten abgeschnitten.
Fatale Folgen für Industriebranchen
Dies hätte auch in Old-Economy-Branchen massive Auswirkungen auf die Kunden von Qualcomm, Nvidia und Co. So kündigte der niederländische Halbleiterkonzern und Automobilzulieferer NXP Semiconductor im Juni 2020 an, seine System-on-a-Chip-Plattform (SoC) für den Automobilbereich künftig von TSMC mit dessen fünf Nanometer-Technologie fertigen zu lassen. Wenige Wochen später gab Mercedes-Benz bekannt, dass ab 2024 jedes neue Fahrzeugmodell der Stuttgarter mit Drive AGX Orin, dem SoC für das autonome Fahren von Nvidia ausgestattet sein wird. „Nvidia ist jedoch einer der wichtigsten Kunden von TSMC. Bei einem Ausfall der Taiwaner würde also auch die Lieferkette von Mercedes reißen“, erklärt Jan-Peter Kleinhans von der SNV.
In solch einem Fall könnten sich die Wertschöpfungsstrukturen der Automobilbranche weltweit verschieben, befürchtet Sven Baumann vom Zentralverband Elektrotechnik- und Elektronikindustrie. „Wenn die Automobilindustrie keine Halbleiter und elektronischen Komponenten mehr bekommen könnte, wären die Konsequenzen von gravierendem Ausmaß. Im schlimmsten Fall könnte die Folge sein, dass globale Elektronikplattformen nicht mehr möglich wären und Fahrzeuge sowie Komponenten nur noch für bestimmte Regionen entwickelt würden“, so der Experte für Mikroelektronik, Sensorik und Aktorik.
Bei Hochleistungschips lassen sich alternative Lieferanten kaum aufbauen
Seine Sorge ist nicht unbegründet. Denn der Aufbau von Fertigungskapazitäten bei alternativen Lieferanten erfordert nicht nur gewaltige Investitionen und viel Zeit. Solch ein Wechsel bedeutet für Halbleiterunternehmen ohne eigene Produktion auch technologisch einen Kraftakt. „Denn schon beim Design eines Chips müssen sich Entwickler überlegen, auf welcher Produktionsstraße sie diesen fertigen lassen wollen. Ein anderes Unternehmen könnte den Chip also nur herstellen, wenn sein Design grundlegend überarbeitet wird“, erklärt Kleinhans.
Daher bleibt aus Sicht vieler Unternehmen zu hoffen, dass die Taiwaner an den Fahnenmasten in ihrer Republik auch beim nächsten chinesischen Neujahrsfest noch die Fahne ihrer eigenen Republik setzen werden.
Originalveröffentlichung auf Golem.de vom 22.10.2020.
* Gerd Mischler ist freier Wirtschaftsjournalist in Fuchstal
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