Vor 30 Jahren war an offene Messtechnik noch nicht zu denken

Redakteur: Dipl.-Ing. (FH) Hendrik Härter

Der Abschied von Rahman Jamal nach knapp 30 Jahren aus dem US-Unternehmen National Instruments kam für viele überraschend. In der Messtechnik-Branche hat er seine Spuren hinterlassen: Er hat den VIP-Anwenderkongress aus der Taufe gehoben. Auch über den Ingenieur als Menschen macht er sich Gedanken.

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Rahman Jamal (links) zusammen mit Hendrik Härter von der Redaktion ELEKTRONIKPRAXIS.
Rahman Jamal (links) zusammen mit Hendrik Härter von der Redaktion ELEKTRONIKPRAXIS.
(Bild: Hendrik Härter)

Wer in der Messtechnik-Branche unterwegs ist, der hat mit hoher Wahrscheinlichkeit Rahman Jamal getroffen. Doch nach nahezu 30 Jahren verlässt er das US-amerikanische Unternehmen National Instruments. Zu den vielen Akzenten seiner globalen Rolle als Verantwortlicher für das Marketing aller Regionen weltweit zählt auch, dass er stets darauf bedacht blieb, den wichtigen deutschen Markt und dessen besondere Charaktereigenschaften adäquat zu adressieren.

Zu den Meilensteinen gehörte etwa der Technologie- und Anwenderkongress „Virtuelle Instrumente in der Praxis“ in Deutschland, den er bereits 1996 ins Leben rief. Kurz nachdem Rahman Jamal den Ausstieg bei National Instruments bekannt gegeben hatte, habe ich mich mit ihm zu einem Gespräch getroffen.

Herr Jamal, der VIP-Kongress, der 2018 letztmalig stattfand, galt 22 Jahre lang als das Mekka der Mess- und Automatisierungstechnik im deutschsprachigen Raum. Sie haben damals die Veranstaltung mit aus der Taufe gehoben. Wie hat alles begonnen?

Seit der Gründung der deutschen Niederlassung im Jahr 1991 standen wir zwar mit unseren deutschsprachigen Anwendern in regem Kontakt, allerdings fehlte uns eine Plattform, die einen praxisnahen Austausch zwischen den Usern untereinander und zwischen den Kunden und uns als Technologieentwickler in einem regelmäßigen Turnus ermöglichte. So hatte ich die Idee für den Technologie- und Anwenderkongress, den ich 1996 ins Leben rief. In Anspielung auf das LabVIEW-Konzept der Virtuellen Instrumente (VIs) verpasste ich ihm den Namen „VIP – Virtuelle Instrumente in der Praxis“. Dabei wählte ich bewusst einen neutralen Namen, um sicherzustellen, dass diese Plattform nicht mit einem Firmenseminar verwechselt wird, dass Technologien und Kundenapplikationen im Vordergrund stehen und dass Hersteller sowie Kunde den gleichen Stellenwert hatten.

Wichtig war mir dabei, in dieser Plattform unterschiedliche Elemente zusammenfließen zu lassen, um einen interdisziplinären Austausch zwischen verschiedenen Fachgebieten zu ermöglichen: Applikationsdokumentation in Form wissenschaftlicher Papers, praktische Demonstrationen der Anwendungen (Proof of Concept) und Teilnehmer aus unterschiedlichen Branchen und Anwendungsfeldern. Der erste Kongress war noch sehr hemdsärmelig organisiert: Das Call-for-Papers für interessante Use Cases erstellte ich beispielsweise selbst und sandte es per Post an Anwender, die ich persönlich kannte – alles manuell, ohne Datenbank und ohne Mailings! Auf diese Weise erhielten wir beachtliche 37 Beiträge für den Kongress, aus denen wir den ersten Begleitband erstellt haben, für rund 230 Kongressteilnehmer. In den insgesamt 22 Jahren des Kongresses wurde natürlich alles viel professioneller und routinierter, sodass wir nicht nur mehr Teilnehmer gewinnen konnten – 2018 waren es fast 700 –, sondern auch die Einreichungen vervielfachen und somit ein zukunftsweisendes Programm zusammenstellen konnten.

Gedruckter Tagungsband war beliebt

Über die Jahre hat sich mit den Tagungsbänden sehr viel Wissen über Anwender-Entwicklungen angesammelt. Was sagt das allgemein über den (deutschen) Entwickler aus und wie war die Resonanz auf die Tagungsbände im Laufe der Jahre?

In der Tat! Um es aus der Sicht eines Messtechnikers zu formulieren: Die Tagungsbände zusammen ergeben 22,1 kg bzw. mehr als 9000 Seiten geballten Wissens. Das Konzept stieß bei den Anwendern auf eine hohe Resonanz. Auf einem solchen Kongress hört man ja viele interessante Vorträge aus den unterschiedlichsten Fachgebieten und kann auch in andere Disziplinen hineinschnuppern und sich von neuen Verfahren zur Applikationslösung inspirieren lassen. Da ist es äußerst hilfreich, wenn man hinterher die Gelegenheit dazu hat, den dazugehörigen Beitrag noch einmal in Ruhe durchzulesen und noch tiefer in die Thematik einzusteigen.

Aber auch Vorträge, die man eben nicht besuchen konnte, lassen sich dort dann nachlesen. Da auch die Autorendaten immer mitgeliefert werden, ist auch ein Austausch außerhalb des Kongresses möglich. Der Erfolg des Kongresses und vor allem des Tagungsbandes verdeutlicht uns, dass der deutsche Entwickler auch im Zeitalter von inflationären Online-„Teasern“, die einen Interessenten erfolgreich ködern, aber keinen substantiellen Inhalt bieten, tiefergehende Dokumentation von Anwendungen bevorzugt. Auch wenn so manch einer einen solchen Tagungsband als „Old School“ tituliert, erhielten wir doch sehr oft von den Kongressteilnehmern das Feedback, dass sie damit die Information geballt in der Hand halten, statt sich mühsam alles online zusammensuchen zu müssen. Das wurde besonders deutlich, als wir den Tagungsband auf dem letzten VIP-Kongress ausfallen ließen, um seine Sinnhaftigkeit zu überprüfen.

Sie sind jetzt knapp 30 Jahre bei National Instruments. Lassen Sie doch die Zeit Revue passieren. Wie hat sich die Messtechnik von damals bis heute entwickelt?

Als ich vor knapp 30 Jahren auf diversen Messen und Kongressen von „offener Messtechnik“ sprach, wurde ich belächelt. Denn Standard waren geschlossene, vom Hersteller fix definierte Messinstrumente. Durch die zunehmende Vernetzung von Dingen – Stichwort IoT – wurden aber nicht nur die Industrie, sondern auch unsere Gesellschaft im Allgemeinen immer vernetzter und offener. Zudem ändern sich Anforderungen beim Messen und Testen rapide – man denke etwa an individuell maßgeschneiderte Produktionen, sprich Losgröße 1.

Diese sich ständig ändernden Bedingungen erfordern aber auch flexible und offene Messsysteme. Geschlossene, von Herstellern von vorneherein festgelegte Boxmesssysteme sind hoffnungslos überfordert. Ein Umstieg auf eine offene, softwarezentrische Plattform mit modularer Hardware und flexibler Software, gepaart mit einem stetig wachsenden Ökosystem ist hier unabdingbar.

Nichts anderes hatten die Firmengründer von National Instruments Dr. James Truchard und Jeff Kodosky von Beginn an im Sinn, denn genau das war die Grundidee hinter den Virtuellen Instrumenten in LabVIEW: Mit diesem Konzept sollte es möglich sein, die Systeme auf die Bedürfnisse des Kunden maßzuschneidern. Genau wie die Funktionalität bei einem Smartphone über Apps und Firmware-Updates erweitert werden kann, lassen sich die Funktionen eines intelligenten software-definierten Testsystems über Software ergänzen und modifizieren. So kann der Anwender sein System stets auf dem aktuellen Stand der Technik halten und mit der sich schnell entwickelnden Gerätefunktionalität Schritt halten. Spätestens nach der Einführung der Smartphones wurde klar, was die beiden Firmengründer mit „offener Plattform“ meinten. Die Crux ist auch hier das die Plattform umgebende Ökosystem, bestehend aus Anwendern, Applikationen, Partnern, Systemintegratoren, Supportingenieuren oder IP.

Den Sinn einer technischen Entwicklung hinterfragen

Der Ingenieur steht immer mehr im Spannungsfeld der Industrie. Wie sollte heute ein Ingenieur/Entwickler arbeiten?

Um es auf den Punkt zu bringen: Mein Wunsch ist es, dass der Ingenieur von morgen in erster Linie ein Humanist ist, also ein Menschenfreund, der mithilfe seiner Entwicklungen dazu beiträgt, die vielen gesellschaftlichen Herausforderungen zu bewältigen. Und zwar ohne einfach nur in seiner Besonderheit aufzugehen, sprich, lediglich coole Techy-Produkte zu erschaffen. Er muss schon den Sinn dahinter im Auge zu behalten, sprich mitverantwortlich sein für die Folgen seiner Arbeit. Und das geht weit über die berufliche Sorgfaltspflicht hinaus. Sicher, der Ingenieur muss schon auch darauf achten, dass seine Produkte qualitativ hochwertig und zuverlässig sind. Wichtig ist aber auch, dass er sich darüber im Klaren ist, welche Auswirkungen seine Entwicklung auf die Gesellschaft hat.

Nehmen wir das Thema KI: Hier muss der Ingenieur sich die Frage stellen, wozu seine KI genutzt werden kann. Was darf KI und wo sind die Grenzen zu setzen? Wollen wir denn wirklich Chatbots, die in der Lage sind, Wahlen zu beeinflussen, wie es in den USA passiert ist? Sollen alle persönlichen Daten eines jeden Einwohners eines Landes in ein digitales Punktekonto einfließen, mit dem der Staat „gute“ von „schlechten“ Bürgern unterscheiden und entsprechend für soziale Vor- oder Nachteile für den Einzelnen sorgen kann? Dennoch birgt die KI sehr viel Potenzial, unser Leben sicherer zu gestalten und die Lebensqualität zu erhöhen. Selbstlernende Maschinen etwa können den Menschen von zeitaufwändigen Routinejobs entlasten, sodass ihm mehr Möglichkeiten für kreatives Arbeiten offenstehen. Ebenso übernehmen sie schwere oder sogar gefährliche Aufgaben und tragen dazu bei, Unfälle zu vermeiden. Der eigentliche Sinn von KI ist es nämlich nicht, die Intelligenz des Menschen zu ersetzen. Vielmehr kann und soll sie eine Bereicherung für unsere Gesellschaft sein.

Daher begrüße ich Initiativen, die zur Persönlichkeitsbildung beitragen, wie die Kooperation zwischen der TU München und der Hochschule für Philosophie München. Diese Initiative zielt darauf ab, Ethik und gesellschaftliche Fragen stärker in das Studium der Naturwissenschaft zu integrieren. Konkret bedeutet das, dass den Studierenden an der TU nun sämtliche Lehrveranstaltungen der Hochschule für Philosophie offenstehen, was die Auseinandersetzung mit grundlegenden oder sogar ganz konkreten ethischen Fragen vereinfachen soll, die für den eigenen Beruf relevant sind.

Ingenieure sollen eine Gesellschaft voranbringen

Die Messtechnik hat Sie über all die Jahre begleitet und Sie haben der Industrie auch Impulse gegeben. Werden wir Sie irgendwann in der Messtechnik wieder antreffen?

Das ist nicht auszuschließen. Es gibt ja nach wie vor Herausforderungen, die man mit seinem Wissen als Ingenieur bewältigen könnte. Denn die oben erwähnte Prämisse, dass ein Ingenieur ein Humanist sein sollte, gilt schließlich auch für mich!

Sie war ja auch mein ursprünglicher Ansatz für das Ingenieursstudium. Ursprünglich komme ich nämlich aus Burma, dem heutigen Myanmar – also einem Entwicklungsland – und kam erst mit zehn Jahren nach Deutschland. Durch diesen Hintergrund wurde mir sehr klar vor Augen geführt, welch große Lücken zwischen einem Entwicklungsland und einem Industriestaat wie Deutschland klaffen. Und diese Erfahrung brachte mich dazu, ein praxisnahes Studium der Elektrotechnik anzugehen, mit dem ich dazu beitragen konnte, solche Klüfte zu überwinden. Denn die Ingenieure sind es, die die großen Herausforderungen von heute lösen können, sei es in puncto Klimawandel, Medizintechnik, Zugang zu Trinkwasser für jedermann oder ähnliches.

Prinzipiell ist es mir also wichtig, dass ich dazu beitragen kann, unsere Gesellschaft voranzubringen. Ob das nun in Form einer Arbeit als Ingenieur oder einer anderweitigen Tätigkeit ist, steht für mich dabei nicht im Vordergrund. Welche Tätigkeit es letztendlich wird, wird sich zeigen!

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