Datenbasierte Diagnose Knochenleser: Künstliche Intelligenz soll Gerüst- und Gelenkerkrankungen erkennen

Redakteur: Dipl.-Ing. (FH) Hendrik Härter

Mehr als zehn Millionen radiologische Aufnahmen aus fünf Ländern flossen in einen KI-Algorithmus, um Knochen- und Gelenkerkrankungen zu diagnostizieren. Ein Start-up hat bereits nach fünf Jahren eine Zulassung in Europa und den USA. Neue Anwendungen sind geplant.

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Mit künstlicher Intelligenz will ein Wiener Start-up Knochen- und Gelenkerkrankungen diagnostizieren.
Mit künstlicher Intelligenz will ein Wiener Start-up Knochen- und Gelenkerkrankungen diagnostizieren.
(Bild: ImageBiopsy Lab)

Ein radiologischer Befund ist bis heute eine Blackbox, die wie ein Relikt aus der Zeit unserer Großeltern wirkt. Diagnostische Einschätzungen und damit mögliche operative Eingriffe, basieren vor allem auf Erfahrung und Tagesform des medizinischen Personals. Für vergleichbare Diagnosen oder die Dokumentation existieren in der Hektik des klinischen Alltags unzureichende bis keine Standards.

„Die Radiologie steckt in puncto Befundung nach wie vor im letzten Jahrhundert fest. Da gibt es enormen Aufholbedarf“, sagt Richard Ljuhar, dessen Vater Davul Ljuhar bereits 1992 die Knochendichtemessung der Osteoporose als erster in Europa zum Standard machte.

Informationen aus dem Inneren der Knochen

Sein Sohn Richard setzt dieses Lebenswerk nun global fort. Nach seiner Doktorarbeit forschte er an Softwareanwendungen, die mithilfe künstlicher Intelligenz (KI) aus Röntgenbildern Informationen aus dem Inneren der Knochen lesen, eine nichtinvasive Biopsie, die auch Namensgeber wurde: Image Biopsy. Vater Davul, 67 und Pate der Idee, ist selbst im Beirat aktiv und hält nach wie vor Anteile am Unternehmen. „Ich bin stolz zu sehen, wie die junge Generation bildgebende Verfahren endgültig in die Zukunft führt“, erzählt Davul Ljuhar.

Und da bleibt noch viel zu tun. Manuelle Befundungen von Krankheitsbildern des Bewegungsapparates, wie der Knie-Arthrose, liegen oft weit auseinander. Das kann so weit gehen, dass bei nur 30 Prozent der Diagnosen eine eindeutige Übereinstimmung vorliegt. Ein unverhältnismäßig niedriger Wert, der nichts anderes bedeutet, als dass mehr als zwei Drittel der Fachärzte zu anderen Einschätzungen beim Schweregrad und Verlauf gelangen und einen anderen Behandlungsweg einschlagen. Eine Fehlerquelle, die eine Behandlung und das Leiden des Patienten unnötig verlängert.

„Unsere in Zusammenarbeit mit Fachärzten aufgebaute KI-gestützte Softwareplattform ist eine Möglichkeit, um die komplexe Diagnostik der muskuloskelettalen Radiologie, Orthopädie und Traumatologie zu unterstützen“, berichtet Christoph Götz, Co-Founder und COO von ImageBiopsy Lab.

Das Gesundheitswesen entlasten

Neben der diagnostischen Absicherung des Patienten liegt das größte Potential jedoch in der Entlastung des Gesundheitssystems. Gerade COVID hat die Dringlichkeit für verbesserte Arbeitsbedingungen von medizinischem Personal aufgezeigt. Dabei nehmen automatisierte Routinen und Dokumentationen einen hohen Stellenwert ein – und schaffen damit Raum für die Akutversorgung der Patienten sowie persönliche Gespräche. Die Bedeutung effizienterer und sicherer Prozesse und der Einsatz von Systemen zur Unterstützung von Entscheidungen, wie das von ImageBiopsy Lab, werden in Zukunft deutlich zunehmen.

Die Ursachen liegen im stetig zunehmenden Kostendruck und einer wachsenden Anzahl von Patienten, bei einer viel langsamer steigenden Zahl des medizinischen Fachpersonals. Bereits heute kommt es vor, dass Mediziner weder die erforderliche Zeit für das Interpretieren von Röntgenaufnahmen noch ausreichend Kapazitäten für Patientengespräche haben. „Eine optimale diagnostische Grundlage für die Entscheidung einer Behandlung kann somit nur bedingt sichergestellt werden“, erklärt Richard Ljuhar.

Der vollständig digitale Befund

Im Zeitalter digitaler Medien hat sich ImageBiopsy Lab zum Ziel gesetzt, die radiologisch-orthopädische Befundung von Bildaufnahme bis Befunderstellung durchgehend zu digitalisieren. Richard Ljuhar: „Unsere Plattform ermöglicht eine präzisere Diagnostik in Echtzeit, ohne bestehende Arbeitsabläufe zu verändern.“ Das bedeutet, dass die rein manuelle Messung und Beurteilung von radiologischen Parametern des Bewegungsapparates nicht mehr erforderlich ist. Die Software ist zu 100 Prozent wiederholgenau“, sagt Ljuhar.

Beschwerden des Bewegungsapparates und der Gelenke sind auf dem Vormarsch. Zwischen 2010 und 2018 hat sich die Anzahl durchgeführter bildgebender Verfahren mehr als verdreifacht. Erkrankungen wie die Knie-Arthrose (Gonarthrose) oder die Arthrose der Hüfte (Coxarthrose) betreffen weltweit hunderte Millionen Patienten und toppen damit die Fallzahlen von Kreislauf- oder Atemwegserkrankungen. Allein die Arthrose-Fallzahlen haben sich in den letzten zehn Jahren um 33 Prozent ausgeweitet und sind damit die am schnellsten wachsende Ursache für Einschränkungen des Bewegungsapparats weltweit. Eine alternde Gesellschaft, zu wenig Bewegung sowie damit einhergehendes Übergewicht, lassen die Zahl von Betroffenen weiter ansteigen. „Der Markt für digitale Analysen von Röntgenbildern der Gelenke wächst zweistellig“, sagt Götz.

Software-Algorithmen für gesunde Knochen

Erste Produktideen hat das Start-up zusammen mit namhaften Ärzten aus der Osteologie sowie Orthopädie entworfen.
Erste Produktideen hat das Start-up zusammen mit namhaften Ärzten aus der Osteologie sowie Orthopädie entworfen.
(Bild: ImageBiopsy Lab)

ImageBiopsy Lab wurde als ein unabhängiges Projektteam der Wiener High-Tech-Schmiede Braincon Technologies gegründet. Dort wurden die ersten Produktideen zusammen mit namhaften Ärzten aus der Osteologie sowie Orthopädie entworfen, dazu zählen Partner wie die Donau-Universität Krems, die medizinische Universität Graz oder etwa das orthopädische Spital Speising. Die Motivation des Firmengründers war es, anhand von hoch sensitiven Software-Algorithmen eine Aussage über die Gesundheit eines Knochens zu liefern. Die Vision, die Befundung und Vorhersage von Knochenkrankheiten grundlegend zu verbessern, ist seit jeher das Leitbild des Gründerteams.

ImageBiopsy Lab gehöhrt zu den führenden Anbietern für KI-unterstützte Analyse in der muskuloskelettalen und orthopädischer Bildgebung (MSK). Vorhandene Software-Module sind bereits für den europäischen Markt und zu Teilen auch für den US-Markt zugelassen. Bis zum dritten Quartal 2022 folgen eine Reihe weiterer US-Medizinproduktezulassungen, sodass der erfolgreiche Markteintritt in den USA weiter ausgebaut werden kann. Der Fokus der ersten Produktversionen liegt aufgrund der hohen Fallzahlen auf 2D-Röntgenbildern der täglichen klinischen Routine. Die bisherigen Softwaremodule heißen HIPPO, LAMA, KOALA, PANDA und stehen für jeweils eine spezifische Körperregion oder Gelenke.

14 medizinische Anwendungsfälle

Die Plattform für Endkunden der KI-Anwendungen wurde in Anlehnung der Tiernamen IBLAB ZOO getauft. Doch die ersten vier Produkte, die in elf Ländern in 50 Krankenhäusern und 60 Praxen im Einsatz sind, markieren nur den Anfang. „Wir haben 14 medizinische 2D- und 3D-Anwendungsfälle identifiziert, die wir bis 2025 auf den Markt bringen möchten“, ergänzt Ljuhar. Das überzeugte auch die Investoren: Aktuell schließen die Gründer eine weitere Finanzierungsrunde bei namhaften VCs ab. Die Teamstärke von 33 soll sich bis Ende 2022 auf 50 erhöhen.

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